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Der Stand der Republikaner mit Ulo rechts sitzend.

© Tsp

Ehemalige Republikaner-Hochburg: Wie Virginia ein Staat der Demokraten wurde

Als Anne 2004 nach Great Falls zog, dachte sie, sie sei die einzige Demokratin. Inzwischen garantiert der Zuzug nach Fairfax County die liberale Mehrheit dort.

Pralle orange Kürbisse lachen die Kunden von den Ständen des Farmer Markets wenige Tage vor Halloween an. Daneben türmen sich Äpfel, Kuchen und Marmelade im „Selbstgemacht“-Design.

An der einen Straßenecke gegenüber haben die Republikaner ihren Wahlkampfstand mit rotem Regendach aufgebaut, an der anderen die Demokraten ihren mit blauem Regendach. Rot ist die Farbe der Republikaner, blau die der Demokraten.

Bei den Demokraten ist deutlich mehr Publikumsverkehr. Passanten nehmen „Yardsigns“ für den Vorgarten mit der Aufschrift „Biden/Harris 2020“ mit. Besonders beliebt sind „Bumpersticker“ für das Auto: „DUMP TRUMP. Vote November 3“ und „Yes, Virginia, there are Democrats in Great Falls“.

Die Gemeinde hat ihren Namen von den Stromschnellen des Flusses Potomac ganz in der Nähe. Es ist eine wohlhabende Gegend im Nordosten Virginias, 20 Meilen westlich von Washington

Zur CIA-Zentrale sind es 15 Minuten mit dem Auto

„Als ich 2004 hierher zog, dachte ich, ich sei die einzige Demokratin hier“, sagt Anne Whipple, eine brünette Mittfünfzigerin. Great Falls galt damals als Hochburg der Republikaner. Menschen, die in Fragen der nationalen Sicherheit und der Wirtschaft mehr Vertrauen zu den Konservativen haben. Zur CIA-Zentrale Langley, Virginia, sind es nur 15 bis 20 Minuten mit dem Auto.

Neuerdings fühlt sich Anne in Great Falls in der Mehrheit. Junge Familien sind hergezogen, die für das gleiche Geld, das eine Etagenwohnung oder ein kleines Reihenhaus im nahen Washington kostet, hier ein geräumiges Haus mit weitläufigem Grundstück kaufen können.

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Bei der Anfahrt durch herbstlich bunt gefärbte Laubwälder und hügeliges Land mit Pferdekoppeln konnte man einen anderen Eindruck gewinnen: Die großen Anwesen im Kolonialstil mit säulengetragenem Giebeldach dominieren das Bild.

Doch ein Blick ins Maklerbüro neben dem Farmers Market bestätigt: Neben den „Mansions“ für mehrere Millionen Dollar gibt es eine Reihe Angebote in der Preisklasse unter einer Million oder knapp darüber.

Republikaner Ulo verteidigt Trump: 100 gehaltene Versprechen

Den Stand der Republikaner betreut der 73-jährige Ulo. Die Poster davor fordern: „Keine neuen Steuern“ und „Keine neue Staatsverschuldung“. Ulo trägt die rote Trump-Kappe mit der Aufschrift „Make America Great Again“. Er wohnt nicht in Great Falls, sondern im nahen Herndon und hilft hier aus, damit die GOP, die „Grand Old Party“, Präsenz zeigt.

Ulo ist 1947 in einem Flüchtlingslager in Nürnberg geboren. Die Eltern stammen aus Estland und flüchteten bei Kriegsende, um nicht in den Gulag zu kommen. Aufgewachsen ist er in Baltimore „im deutschen Viertel“, wie er sagt.

„Zu Hause haben wir Estnisch gesprochen, auf der Straße Deutsch, und als ich in den Kindergarten kam, war es ein Schock, dass die meisten anderen Englisch sprachen. Aber ich habe schnell gelernt.“

Wenn mal jemand am roten Republikaner-Stand stoppt, drückt Ulo ihm ein Buch mit Trumps „Top 100 Promises Made and Kept“ in die Hand, von Steuersenkungen über illegale Migration bis zu konservativen Richtern.

Er scherzt, die letzten drei Seiten habe man frei gehalten, damit, wer wolle, dort aufschreiben könne, welche Versprechen Joe Biden gemacht und gehalten habe. Aber da gebe es ja nichts zu notieren.

Die Republikaner setzen jetzt auf afroamerikanische Wähler

Im Radio war gerade zu hören, dass sich die Schulden der USA allein im Jahr 2020 um drei Billionen Dollar erhöht haben. 1980 war der Republikaner Ronald Reagan gewählt worden, weil er es einen Skandal nannte, dass die öffentliche Verschuldung die Marke von einer Billion überschritten hatte.

Die Regierung, forderte Reagan, müsse haushalten lernen. Unter Trump sind die Republikaner weit davon abgekommen. Dazu möchte Ulo nichts sagen. Er wechselt rasch das Thema: Die designierte neue Verfassungsrichterin Amy Coney Barrett sei eine großartige Frau.

Ganz ohne Notizen, rein aus dem Gedächtnis habe sie die Anhörung im Senat bestritten. Und dennoch wollten die Demokraten sie verhindern. Das sei gemein von ihnen.

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Wie sieht er Trumps Chancen in Virginia. „Trump gewinnt Virginia“, behauptet er. Wie das? „36 Prozent der Afroamerikaner werden Trump wählen“, prognostiziert er. Bei den Demokraten löst das, später darauf angesprochen, Schmunzeln aus.

In der letzten TV-Debatte hatte Trump sich gelobt: "Kein Präsident hat mehr für die Schwarzen getan als ich – vielleicht mit der Ausnahme von Abraham Lincoln." Lincoln beendete die Sklaverei. Und mit weniger als solchen historischen Vergleichen gibt ein Trump sich nicht ab.

Zwei Stunden Schlange vor der Stimmabgabe

Eine Straßenecke weiter hat sich inzwischen eine lange Schlange vor der öffentlichen Bibliothek gebildet. Dort kann man zum „Early Voting“ gehen und bereits in den Tagen vor dem Wahltag am 3. November abstimmen. Geduldig stehen die Menschen mit Maske und sechs Fuß Abstand, knapp zwei Meter.

Anderthalb bis zwei Stunden werde es wohl dauern, schätzt Anne. Einer trägt den Button: "Democratic Party. We're not perfect. But they're nuts."

Ein Button der Demokraten.
Ein Button der Demokraten.

© Tsp

Warum tun sich die Menschen das an und machen nicht Briefwahl? Bevor sie antworten kann, kommt eine junge Afroamerikanerin an den Stand der Demokraten. „Kann ich hier wählen, obwohl ich Briefwahl beantragt habe?“, fragt sie etwas nervös. „Ja, das geht“, sagt Anne.

„Einfach die Briefwahlunterlagen mitbringen, die werden ungültig gestempelt, und Sie können hier wählen.“ Die Wartezeit schreckt die junge Frau nicht. „Ich will sicher gehen, dass meine Stimme zählt.“ Der von Trump entfachte Streit um die Briefwahlstimmen hat sie verunsichert.

Wahlkampfmanager Kiraly will den Sieg für die Demokraten liefern

20 Meilen südlich von Great Falls, in Fairfax City, haben die Demokraten ihr Hauptquartier für die Region. Jack Kiraly, ihr Wahlkampfmanager, hat neben der Wahlkreiskarte ein Poster mit einer Zahl in fünf Farben hängen: 355.133. So viele Stimmen bekamen die Demokraten in Fairfax County 2016, rund 200.000 mehr als die Republikaner.

Der Wahlkampfmanager der Demokraten, Jack Kiraly.
Der Wahlkampfmanager der Demokraten, Jack Kiraly.

© Tsp

Es war ziemlich genau die Marge, mit der Hillary Clinton den Staat Virginia gewann. „Solange wir in Fairfax County 200.000 Stimmen Vorsprung oder mehr schaffen, bleibt Virginia ein blauer Staat“, sagt Kiraly selbstbewusst. Er ist sicher, dass er das Ziel 2020 übertrifft.

Bis zur Jahrtausendwende war Virginia ein roter Staat. Mit Barack Obama hat sich das geändert. Er siegte hier 2008 und 2012. Mehr noch: Seit 2009 hat kein Republikaner mehr ein „Statewide office“ gewonnen, ein politisches Amt auf Landesebene wie Gouverneur oder Senator. Das lag nicht allein an Obama, sondern auch an der Demografie, erklärt Kiraly.

Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 wurden Ministerien und Sicherheitsdienste in Washington ausgebaut. Die Zugezogenen fanden in der Hauptstadt kaum noch bezahlbare Wohnungen. Sie zogen ins Umland.

So ist der angrenzende Fairfax County zum bevölkerungsreichsten Bezirk Virginias geworden. Seine 1,2 Millionen Bürger wiegen die konservativen Hochburgen auf. Virginia war im Bürgerkrieg das politische Zentrum der Südstaaten, Richmond die Hauptstadt der Konföderierten. Heute ist Virginia ein verlässlich blauer Staat. North Carolina, der Nachbar im Süden, tendiert hingegen weiter zu den Republikanern.

"Nova" übertrumpft "Rova"

„Jeder siebte Wähler in Virginia wohnt in Fairfax County“, sagt Kiraly. „Und jeder fünfte derer, die für die Demokraten stimmen.“ Die Hauptstadt Richmond hat nur 600.000 Einwohner, aber auch sie ist – wie die meisten Großstädte in den USA – mehrheitlich liberal.

Konservativer wird es in Richtung Westen, in den Blue Ridge Mountains und den übrigen Appalachen, etwa um das Universitätsstädtchen Charlottesville. Und in Richtung Küste und Virginia Beach. In Norfolk ist das Atlantik-Kommando der Marine.

Bereits im westlich an Fairfax angrenzenden Bürgerkriegsschlachtort Manassas, Prince Williams County, schwindet das demokratische Übergewicht. Ebenso im nördlich angrenzenden Loudoun County. Aber das hilft den Republikaner nicht mehr. "Nova" (Northern Virginia) übertrumpft "Rova" (The Rest of Virginia).

Trump aus dem Amt schmeißen - ein zugkräftiger Slogan

Die „Early Voters“, schätzt Kiraly auf Grund von Befragungen, stimmen zu 75 Prozent für die Demokraten. Die Beteiligung sei höher als je zuvor. „2016 fehlte uns eine mitreißende Botschaft für Hillary Clinton. Die Republikaner hatten eine: Sie wollten eine Wende nach acht Jahren Obama. Heute ist es umgekehrt. ,Voting Trump out of office‘ ist ein starkes emotionales Motiv für viele Wähler.“ Oder kürzer, wie auf dem Bumpersticker: „Dump Trump“.

Die Anläufe, auch im Headquarter der Fairfax County Republicans jemanden zu sprechen, bleiben erfolglos. Sie haben weniger Personal, weniger Geld – und es ist wohl auch nicht sonderlich attraktiv, einem Medienvertreter zu erklären, warum Trump in den Umfragen für Virginia mehr als elf Prozentpunkte hinter Biden liegt.

Wie aus Republikanern „Independents“ werden

Zurück nach Great Falls, zu zwei Männern, die hier schon lange leben und in der Business Community bestens vernetzt sind. Mit dem einen – er hat lange in der Leitung eines internationalen Luftfahrtkonzerns gearbeitet und beschreibt sich als „ein George Herbert Walker Bush Republikaner, also der Vater, nicht der Sohn“ –  sitzen wir auf der Veranda seiner „Mansion“ mit Blick auf sattgrünen Rasen und ausladende Baumkronen.

2020 sei „die folgenreichste Wahl meines Lebens“. Warum? Es geht darum, ob „wir weiter von Leuten regiert werden, die die Realität ignorieren“. Oder von einem Moderaten wie Biden, der „kluge Leute um sich scharen“ und „die USA wieder in die internationalen Verträge zurückführen“ werde.

Er wünscht sich ein Land zurück, in dem beide Lager Kompromisse schließen. Aber das werde wohl nur möglich, wenn die Demokraten auf ganzer Linie siegen und neben dem Weißen Haus und Repräsentantenhaus auch den Senat erobern.

Mit einer hauchdünnen Senatsmehrheit würden sie keine linke Revolution anzetteln, sondern mit den Republikanern Krankenversicherung und Infrastruktur modernisieren. Behalten hingegen die Republikaner die Senatsmehrheit, fürchtet er, dass sie Blockade betreiben.

Der andere Mann war sein Leben lang Demokrat und ist Wirtschaftsberater. Jeff Thinnes hat große deutsche Konzerne durch „Compliance“-Probleme in den USA gesteuert.

Und berichtet aus seinen sozialen Netzwerken sowie dem Golf- und dem Country Club: Viele Bekannte, die früher stolze Republikaner waren, stellten sich neuerdings als „Independents“ vor, als parteiunabhängig. Es sei wohl ihr Weg, vor sich selbst zu rechtfertigen, warum es okay ist, 2020 nicht den Kandidaten der Republikaner, sondern Biden zu wählen.

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