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Auftakt unter Protest: Die neue Sitzungsperiode des Supreme Courts in Washington startete mit Demonstrationen für und gegen Abtreibungen.

© Kevin Dietsch/Getty Images/AFP

Neuer Supreme-Court-Term: Amerikas Spaltung vor Gericht

Die neue Sitzungsperiode des Obersten Gerichts wird kontrovers wie lange nicht. Unter anderem könnte die liberale Regelung für Schwangerschaftsabbrüche kippen.

Traditionell starten die Sitzungsperioden des Supreme Court am ersten Montag im Oktober und dauern in der Regel bis Ende Juni/Anfang Juli. In der vergangenen Woche hat nun ein „term“ begonnen, der es wahrlich in sich hat.

Auf der Agenda stehen gesellschaftlich und politisch hoch umstrittene Themen, die über das Zusammenleben der Amerikaner entscheiden – an erster Stelle die Debatte um das Recht von Frauen, eine Abtreibung vorzunehmen. Hier wurde gerade eine mündliche Verhandlung für Anfang Dezember zu einem entsprechenden Rechtsstreit im Bundesstaat Mississippi angesetzt.

Ein Gesetz in Mississippi verbietet Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche. Bisher blockieren Gerichte dieses Gesetz mit Verweis auf die Supreme-Court-Entscheidung im Fall „Roe v. Wade“, mit der im Jahr 1973 landesweit Abtreibungen erlaubt wurden. Der Bundesstaat will „Roe v. Wade“ kippen – ein Anliegen, das Konservative im ganzen Land teilen.

Konservative Staaten warten auf die Supreme-Court-Entscheidung

Andere Staaten wie Texas warten gespannt auf das Signal aus Washington. Texas hat ebenfalls ein umstrittenes Gesetz verabschiedet, das fast alle Abtreibungen verbietet, sobald der Herzschlag des Fötus festgestellt worden ist. Viele Frauen wissen zu diesem frühen Zeitpunkt noch gar nicht, dass sie schwanger sind. Liberale sorgt mit Blick auf die ausstehende Entscheidung zu Mississippi, dass der Supreme Court im September einen Eilantrag gegen das texanische Gesetz abgewiesen hat.

Am vergangenen Mittwochabend stoppte ein Bundesrichter in Texas zwar das Herzschlag-Gesetz und gab damit einer Klage der Regierung von US-Präsident Joe Biden recht. Diese hält das texanische Gesetz für verfassungswidrig.

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Von dem Moment an, als das Gesetz in Kraft getreten sei, seien Frauen unrechtmäßig daran gehindert worden, Kontrolle über ihr Leben auszuüben, argumentierte Richter Robert Pitman. Das Gericht werde keinen weiteren Tag „diese beleidigende Beraubung eines so wichtigen Rechts“ gutheißen.

In Texas geht es hin und her

Lange konnte die US-Regierung diesen Erfolg allerdings nicht genießen. Texas legte sofort Widerspruch ein, und ein Berufungsgericht setzte das Gesetz am Freitagabend wieder in Kraft.

Diese umstrittene Regelung gibt zudem Privatpersonen die Möglichkeit, zivilrechtlich gegen alle vorzugehen, die einer Frau bei einem Schwangerschaftsabbruch helfen. Die US-Regierung sprach von „Kopfgeldjägern“, da alle Menschen, die einer Frau bei einer Abtreibung in irgendeiner Form unterstützen, von Privatpersonen verklagt werden können: etwa Taxifahrer, die Frauen zu einer Klinik fahren und sogar Eltern, die ihre Tochter finanziell bei der Abtreibung unterstützen.

Beim Thema Abtreibung zeigt sich die gesellschaftliche Spaltung besonders

An wenigen Streitpunkten zeigt sich die Spaltung der USA so sehr wie an diesem, und in der Regel verläuft die Trennlinie entlang religiöser Einstellungen. Aber auch die Frage, wann wo Waffen erworben und getragen werden können sowie mögliche Einschränkungen der Religionsfreiheit und die Todesstrafe werden verhandelt werden.

Eventuell wird es auch um die Diskriminierung beziehungsweise die Förderung ethnischer Minderheiten gehen, wenn das Gericht eine Klage gegen „affirmative actions“ an Universitäten annimmt. Alles Themen, die stark polarisieren.

Anhörung zum Waffenrecht am 3. November

Beim Waffenrecht steht eine Anhörung am 3. November an. Hierbei geht es um die Frage, ob Bundesstaaten das im zweitem Verfassungszusatz festgeschriebene Recht, eine Waffe in der Öffentlichkeit zu tragen, einschränken können. Im Bundesstaat New York gilt seit einem Jahrhundert die Regel, dass man dafür einen wichtigen Grund anführen muss.

Dagegen wehren sich zwei Kläger – unterstützt von der Waffenlobbyorganisation National Rifle Association (NRA). Die den Republikanern nahestehende NRA hofft auf einen Schneeballeffekt durch das Urteil in anderen Staaten.

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Die neun Richter, von denen seit der Amtszeit von Donald Trump die Mehrheit (sechs) dem konservativen Lager zugerechnet werden, werden in dieser Gerichtsperiode unter außergewöhnlich genauer Beobachtung und immensem Druck der verschiedenen Interessengruppen stehen. Und ihre Urteile werden womöglich dafür sorgen, dass Konflikte befeuert, nicht befriedet werden. Die Polarisierung der Gesellschaft macht auch vor der Judikative nicht halt.

Der Supreme Court hat an Ansehen verloren

Die Zeiten, in denen das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten als neutrale Instanz angesehen wurde, sind offenbar vorbei. Einer Umfrage von YouGov zufolge ist mehr als die Hälfte der Amerikaner davon überzeugt, dass der Supreme Court parteiisch entscheidet.

Und Gallup ermittelte im September, dass eine Mehrheit inzwischen unzufrieden mit der Arbeitsweise des Gerichts ist. Nur noch 40 Prozent äußerten sich positiv, ein historisches Tief.

Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen wie die der Umfrage-Seite „FiveThirtyEight“. Die Autorin Amelia Thomson-DeVeaux geht der Frage nach, warum es dem Supreme Court zunehmend egal ist, wie die Mehrheit der Amerikaner zu Abtreibung oder Waffenbesitz steht – dass das Waffenrecht weiter ausgeweitet oder „Roe v. Wade“ gekippt wird, ist definitiv nicht Mehrheitsmeinung.

Das Gericht ist konservativer als die Gesellschaft

Doch die Chancen, dass die Richter deutlich extremer urteilen, als die meisten Bürger das wollen, ist demnach groß – auch wenn zumindest der als konservativ geltende Chief Justice John Roberts sich in der Vergangenheit häufig deutlich moderater positionierte als angenommen. Aber dass das Gericht sich überhaupt mit diesen explosiven Themen befasst, zeigt bereits, dass sich sein Gewicht nach rechts verschoben hat.

Spannend wird daher auch die Frage, wie sich ein Richter verhalten wird, der noch von Bill Clinton ernannt worden ist. Stephen G. Breyer, der im August 83 Jahre alt wurde, sieht sich zunehmendem Druck ausgesetzt, zurückzutreten, solange noch ein Demokrat im Weißen Haus regiert und die Partei die Mehrheit im Senat stellt.

Druck auf ältere Richter

Zuletzt hatte sich die beliebte, inzwischen verstorbene Richterin Ruth Bader Ginsburg (Spitzname RBG) ähnlichem Druck bis zuletzt widersetzt. Sie weigerte sich, noch in Barack Obamas Amtszeit den Weg dafür freizumachen, dass ihr Sitz mit einem liberalen Richter nachbesetzt werden kann. Als RBG dann kurz vor der Wahl 2020 mit 87 Jahren ihrem Krebsleiden erlag, war der Schock riesig – und zurecht.

Trump nutzte die Chance, mit der im Eilverfahren durchgebrachten 49-jährigen Amy Coney Barrett, einer katholischen Abtreibungsgegnerin, die konservative Mehrheit auf längere Zeit weiter auszubauen. Es war das dritte Mal in vier Jahren (nach Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh), dass er einen Obersten Richter auf Lebenszeit ernennen konnte.

Diskutiert wird über Vergrößerung des Obersten Gerichts

Diese konservative Mehrheit hat viele Liberale zu der Auffassung gebracht, dass es nun an der Zeit sei, die Zahl der Richter aufzustocken, womöglich von neun auf 13 – ein Schritt, gegen den die Republikaner Sturm laufen und von dem sie gleichzeitig hoffen, dass er ihnen Wählerstimmen zutreibt.

Biden hat dafür eine überparteiliche Kommission eingesetzt, die nach dem Rechtsruck unter Trump über mögliche Reformen des Obersten Gerichts beraten soll. Unter anderem darüber, ob die Zahl der Obersten Richter erhöht oder deren Amtszeit begrenzt werden sollte.

Versucht hat das „court packing“ mal Präsident Franklin Roosevelt im Jahr 1937, nachdem die Richter zentrale Bestandteile seiner „New Deal“-Gesetzgebung blockiert hatten, mit der er die Wirtschaftskrise nach der Großen Depression bekämpfen wollte. Roosevelt kündigte an, jedes Mal, wenn ein Richter 70 werde, einen neuen zu ernennen, falls die alten nicht zurückträten.

Franklin Roosevelt scheiterte mit dem „court packing“

Das Gericht hätte demnach bis auf 15 Richter aufgestockt werden können – in der Lesart des damaligen Präsidenten, um es effizienter zu machen. Seine Kritiker hingegen argumentierten, er wolle damit nur jene Richter neutralisieren, die sich gegen seine Politik stellten.

Roosevelt setzte seinen New Deal letztlich zwar um. Er scheiterte aber klar mit dieser Reform, und das obwohl er eine deutliche demokratische Kongressmehrheit hinter sich hatte. Von solchen Mehrheiten kann Biden nur träumen, weswegen eine Vergrößerung des Gerichts nicht absehbar ist.

So oder so wird aber das Thema bald wieder hochkochen: Als Biden die Kommission Mitte April einrichtete, hieß es, ein halbes Jahr nach der ersten Sitzung werde es einen Abschlussbericht geben. Das wäre in wenigen Wochen.

Kommt es zu keinen größeren Reformen, kann Biden nur darauf hoffen, dass auch konservative Richter eine beim Volk beliebte Politik nicht konsequent blockieren wollen. Denn immerhin vertritt er als gewählter Präsident die demokratische Mehrheit.

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