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Wollen Israel regieren: Jair Lapid (r), Vorsitzender der Partei Jesch Atid, und Naftali Bennett, Vorsitzender der Jamina-Partei, während eines gemeinsamen Treffens.

© -/Yesh Atid Handout/dpa

Update

Neue Regierungskoalition in Israel: Kunterbunter Aufbruch in die Zukunft – oder wilde Chaostruppe?

In Israel kündigt sich eine historische Koalition an: Linke mit Rechten und Juden mit Arabern. Noch-Regierungschef Netanjahu ruft sofort zum Widerstand auf.

Um 23:22 Uhr in der Nacht auf Donnerstag klingelte das Telefon des israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin. Am Apparat war Yair Lapid, Israels Oppositionsführer, mit einer wichtigen Botschaft: Er hatte eine Koalition auf die Beine gestellt, 38 Minuten vor Ablauf des Mandats, das der Präsident ihm einen Monat zuvor übergeben hatte.

Es ist eine Koalition, wie sie das Land noch nicht gesehen hat – und die manche schon jetzt als historisch beschreiben: Sie vereint nationalistische Kräfte, die einen Palästinenserstaat ablehnen, mit linken Verfechtern einer Zweistaatenlösung und arabischen Islamisten.

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Zu alledem soll ein Mann Ministerpräsident werden, dessen Partei nur sieben Mandate hält: Naftali Bennett, Vorsitzende der rechten Yemina-Partei.

Manche Kommentatoren sagen der Koalition eine kurze Lebensdauer voraus, andere glauben nicht daran, dass das ungewöhnliche Bündnis die anstehende Abstimmung im Parlament übersteht. Dennoch halten viele allein die Einigung dieser acht so verschiedenen Kräfte für eine Sensation. Derart unwahrscheinlich hatte dieses Szenario zuletzt gewirkt, dass viele Analysten mit baldigen Neuwahlen gerechnet hatten.

Ministerpräsident wechselt nach zwei Jahren

Für seinen Durchbruch musste Lapid einen hohen Preis zahlen. Seine zentristisch-säkulare Yesh-Atid-Partei (Es gibt eine Zukunft) ging zwar mit 17 Mandaten als zweitstärkste Kraft aus der Wahl im März hervor, überflügelt nur von der rechten Likud-Partei des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.

Doch um Bennett auf seine Seite zu bringen, musste Lapid ihm enorme Zugeständnisse machen. Dazu zählt, dass Bennett in den ersten zwei Jahren das Amt des Ministerpräsidenten bekleiden soll. Erst danach darf Lapid übernehmen, der bis dahin als Außenminister dienen will.

Benny Gantz, Vorsitzender des zentristischen Blau-Weiß-Bündnisses, soll Verteidigungsminister bleiben. Dem Chef der rechten Partei Neue Hoffnung, Gideon Saar, verspricht die Koalitionsvereinbarung das Justizministerium. Avigdor Liberman, Vorsitzender der rechten Partei Israel Beitenu, soll das Finanzministerium führen, Merav Michaeli, die Chefin der Arbeitspartei, das Transportministerium.

Benjamin Netanyahu wird versuchen, die neue Koalition bis zuletzt zu verhindern.
Benjamin Netanyahu wird versuchen, die neue Koalition bis zuletzt zu verhindern.

© Menahem KAHANA / AFP

Für Mansour Abbas, den Vorsitzenden der arabisch-islamistischen Raam-Partei, ist kein Kabinettsposten vorgesehen. Dafür konnte er jedoch wichtige Forderungen durchsetzen, unter anderem Investitionen von umgerechnet rund 18 Milliarden Euro in den arabischen Sektor sowie die nachträgliche Legalisierung dreier Beduinendörfer in der Negevwüste, die ohne Genehmigungen errichten wurden. Es ist das erste Mal in der Geschichte Israels, dass eine eigenständige arabische Partei sich einer Koalition anschließt.

„Ich verpflichte mich dazu, dass diese Regierung im Dienst aller israelischer Bürger arbeiten wird, jener, die für sie gewählt haben, und jener, die es nicht getan haben“, verkündete Lapid in der Nacht auf Donnerstag. „Sie wird ihre Gegner respektieren und alles in ihrer Macht tun, alle Teile der israelischen Gesellschaft zu verbinden und zu vereinen.“

Was nach einem hehren Ziel klingt, dürfte in der Realität schwer umzusetzen sein. Seit Wochen schon erhalten Bennett und seine Parteikollegin Ayelet Shaked Drohungen, vermutlich von fanatischen Netanjahu-Anhängern, weil sie die Bildung einer ideologisch breiten Koalition unterstützen. Der israelische Inlandsgeheimdienst Shin Bet erhöhte deshalb vor einigen Tagen den Schutz der beiden Politiker.

Netanjahu ruft Rechte zum Widerstand auf

Zudem hat das Bündnis noch einige Hürden zu nehmen. In der kommenden Woche muss eine Mehrheit von mindestens 61 Abgeordneten für die Koalition stimmen. Viele Analysten gehen davon aus, dass Netanjahu bis zur letzten Minute versuchen wird, Mitglieder der rechten Parteien zur Revolte zu bewegen.

In seiner ersten Reaktion am Donnerstag rief Netanjahu sofort zum Widerstand von Parlamentsabgeordneten gegen die künftige Regierung auf. Er kritisierte seinen designierten Nachfolger Bennett von der ultrarechten Yemina-Partei. „Jeder Knesset-Abgeordnete, der mit den rechten Stimmen gewählt wurde, muss sich der gefährlichen linken Regierung widersetzen“, schrieb Netanjahu auf Twitter. „Bennett hat die Negev an Raam verkauft.“

Ein Abgeordneter der Yemina-Partei, Nir Orbach, deutete am Mittwoch bereits Zweifel an der Regierungsoption an. Ein zweiter Yemina-Abgeordneter hatte bereits zuvor angekündigt, gegen eine Koalition mit linken Parteien zu stimmen. Sollte Orbach kippen, würde dem Bündnis eine Stimme zur Mehrheit fehlen.

Scheitert es, würde das Mandat zur Regierungsbildung an die Knesset übergehen. Jeder Abgeordnete könnte dann versuchen, eine Mehrheit zu finden, was allerdings als unwahrscheinlich gilt. Bliebe auch dieser Versuch erfolglos, müssten Neuwahlen angesetzt werden – zum fünften Mal in zweieinhalb Jahren. Das Ende der Ära Netanjahus auszurufen, der das Land bereits länger regiert als jeder seiner Vorgänger, wäre derzeit also verfrüht.

„Ich spekuliere, dass er denkt, diese Regierung wird bald zusammenbrechen“, meint die Politanalystin Tal Schneider. „Er plant vermutlich mit einer fünften Wahl in naher Zukunft.“

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