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Der britische Premier Boris Johnson am Dienstag vor seinem Amtssitz in der Londoner Downing Street.

© dpa

Nervenkrieg zwischen London und Brüssel: Wie wahrscheinlich ist ein Scheitern der Handelsgespräche?

Der britische Premier Boris Johnson hatte der EU ein Ultimatum bis Donnerstag gesetzt. Doch die Gemeinschaft lässt sich mit den Handelsgesprächen Zeit.

Es ist ein Nervenkrieg, der derzeit zwischen Großbritannien und der EU im Gange ist. Am Donnerstag und Freitag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel, um zu erörtern, wie und ob ein Handelsvertrag mit Großbritannien vor Jahresende überhaupt noch geschlossen werden kann.

Seit Monaten machen die Verhandlungen zwischen beiden Seiten kaum Fortschritte. Bei dem Treffen in Brüssel soll es deshalb auch um Notfallpläne für den Fall des Scheiterns der Gespräche gehen.

Allerdings kennt man das schon aus der Endphase der Verhandlungen um den Austrittsvertag, die ziemlich genau vor einem Jahr eine Einigung zwischen London und den 27 EU-Staaten in Fragen wie der Grenzregelung auf der irischen Insel und den Rechten der EU-Bürger auf der Insel brachten: Es ist ziemlich viel Taktiererei im Spiel.

Nicht nur der britische Premierminister Boris Johnson möchte den Preis für eine Vereinbarung über die künftigen Handelsbeziehungen möglichst hoch treiben, sondern auch die EU.

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So gesehen ist die Ankündigung, dass die EU-27 beim Gipfel in Brüssel auch Szenarien für einen No-Deal-Brexit erörtert werden wollen, vor allem als Signal an London zu verstehen: Zur Not kann man die Handelsgespräche auch platzen lassen.

Der EU-Chefverhandler Michel Barnier hat angekündigt, dass die Verhandlungen bis Ende des Monats abgeschlossen sein müssen, damit anschließend noch genug Zeit für die Ratifizierung bleibt. Dagegen hatte Johnson gefordert, dass schon zum bevorstehenden EU-Gipfel eine Vereinbarung stehen müsse - anderenfalls werde er den Verhandlungstisch verlassen.

Die EU setzt darauf, dass die Gespräche Ende Oktober weitergehen

Trotz Johnsons Drohung deutet vieles darauf hin, dass die zähen Detailgespräche über staatliche Beihilfen für die Industrie im Vereinigten Königreich, die künftigen Regeln gegen Sozial- und Steuerdumping auf der Insel oder die Fischfangrechte in den britischen Hoheitsgewässern auch nach dem Brüsseler Gipfel weitergehen werden.

Vor dem Gipfel erklärte der französische Europaminister Clément Beaune im Sender FranceInfo, dass bis Anfang November eine Vereinbarung gefunden werden müsse.

Frankreich gehört auf der EU-Seite zu den Ländern, die sich besonders vehement dafür einsetzen, dass Großbritannien nach dem Ende der laufenden Übergangsphase ab Anfang 2021 nicht in großem Maße von den bislang im Vereinigten Königreich herrschenden Umwelt- und Sozialstandards der EU abweichen kann. Zu den Staaten, die in diesem Punkt ebenfalls hart auftreten, gehören auch Italien, Portugal, Dänemark und die Niederlande.

Beaune betonte, dass man keinesfalls „ein Abkommen um jeden Preis“ mit London abschließen wolle. „Wir werden nicht die Interessen der Europäer, unserer Unternehmen, unserer Fischer opfern“, erklärte der Europaminister.

Drei Knackpunkte: Fischerei, Wettbewerb, Streitschlichtung

Neben der Fischerei und der Garantie fairer Wettbewerbsbedingungen gibt es noch eine dritte Frage, die noch besonders umstritten ist: Wie sollen die EU und Großbritannien Streitfälle schlichten, da Großbritannien die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Zukunft nicht mehr akzeptieren will?

Auch in der letzten Verhandlungsrunde hat es kaum Fortschritte gegeben, wie Barnier am Dienstag die in Luxemburg versammelten EU-Europaminister wissen ließ. Von daher ist zu erwarten, dass der bevorstehende EU-Gipfel dem Brüsseler Chefverhandler vor allem zu einem Zweck dienen wird: Der Franzose möchte mit den EU-Staaten ausloten, wo er in der bevorstehenden heißen Phase der Verhandlungen hart bleiben muss und wo er London möglicherweise noch entgegenkommen kann.

Die europapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Franziska Brantner, forderte derweil, es dürfe nicht zu einem unfairen Wettbewerb zu Lasten von Unternehmen in der EU kommen. „Ich sehe mit Sorge, dass es auch unter einigen EU-Mitgliedstaaten Tendenzen gibt, beim Beihilferecht und den Umweltstandards Großbritannien bei den Verhandlungen zu weit entgegenzukommen“, sagte Brantner dem Tagesspiegel. „Deutschland muss sich eng an die Seite Frankreichs stellen, wenn es darum geht, den EU-Binnenmarkt zu schützen“, sagte sie.

Umstrittenes Seehofer-Papier zu künftigen Beziehungen im Justizbereich

Dass Deutschland bei den Post-Brexit-Verhandlungen gelegentlich in eigener Regie handelt, habe sich nach den Worten von Brantner zuletzt bei einer Videokonferenz der EU-Innenminister in der vergangenen Woche gezeigt. Innenminister Horst Seehofer (CSU) habe dabei ohne Absprache mit EU-Chefunterhändler Barnier im Namen des deutschen EU-Vorsitzes ein informelles Papier zur künftigen Zusammenarbeit mit Großbritannien im Bereich der Justiz- und Innenpolitik verteilt.

Zudem ist nach den Worten der Grünen-Politikerin in den letzten Wochen der Verhandlungen auf der EU-Seite aus dem Blick geraten, dass das Ergebnis der Post-Brexit-Gespräche auch eine Signalwirkung für europäische Rechtspopulisten wie die Vorsitzende der französischen Partei „Rassemblement National“, Marine Le Pen, habe.

Rechtspopulistische Bewegungen könnten sich in ihren Forderungen nach einem EU-Austritt ihrer Länder im Fall eines für London vorteilhaften Deals bestätigt sehen. „Es geht nicht um ein ganz normales Handelsabkommen wie mit Japan oder Neuseeland, sondern es geht um einen ehemaligen Mitgliedstaat“, sagte Brantner.

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