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Protestierende Legida-Gegner in der Leipziger Innenstadt.

© Hendrik Schmidt/dpa

Neonazis und Legida: Wie die Rechten die Kulturstadt Leipzig verändern

Sie dachten bereits: Wir haben alles richtig gemacht, die Neonazis aus Leipzig verdrängt! Dann kam Legida, Schläger verwüsteten eine ganze Straße. Warum die Stadt der großen Musiker und Maler wieder angreifbar geworden ist.

Er hat Blut gespuckt, als das Jahr begann. Ein böser Husten hallte durch seine Wohnung, begleitete ihn auf seinen Spaziergängen durch die Stadt, mischte sich unter all die anderen Geräusche, das Passantengemurmel, das Summen der Straßenbahnen. Husten begleitete die Kirchenkonzerte des Thomanerchors und die Auftritte des Gewandhausorchesters. Er wehte über den Platz, der nach dem Komponisten Richard Wagner benannt ist. Eine Art Flaschengeist war entwichen in Leipzig. Er besuchte Holger Oleys Lunge und die Straßen der Stadt. Oley beschloss, wachsamer zu sein.

Deshalb steht er auch an diesem Morgen mit diesem Ding zwischen den Lippen draußen auf dem Balkon. Die Bäume im Innenhof sind kahl, es ist immer noch nicht Frühling. Der Husten ist weg, aber sein Nachhall ist noch da. Er lauert im Kopf und warnt. Hätte auch schlimmer kommen können, droht er, sieh dich vor, Oley. Deshalb dieses Ding, die Elektrozigarette. Die benutzt er jetzt öfter.

Sieh dich vor, Leipzig. Zum Jahresanfang, ungefähr zur selben Zeit, als Oley das Blut aus der Lunge kam, zogen ungefähr 250 Leute durch seine Stadt. Nach Erkenntnissen der Polizei waren sie „rechtsmotiviert und/oder Gewalttäter Sport“ – sie warfen im Stadtteil Connewitz auf einer Strecke von einigen hundert Metern Fensterscheiben ein. Sie demolierten die Auslagen eines Gardinenladens, einer Bäckerei, einer Buchhandlung.

Neonazis liefen durch die Straßen. Es war zum „Sturm auf Leipzig“ gerufen worden, „holen wir unser Land zurück“, „wenn Leipzig fällt, fällt Deutschland“. Viel Lärm und Inbrunst insgesamt. Denn Leipzig ist nicht bloß eine Stadt, Leipzig ist ein Symbol.

Lange nicht gehörter Sound

Der Bürgermeister sprach von „Straßenterror“. Ein paar Wochen später wurde in einer Leipziger Asylbewerberunterkunft Feuer gelegt, vor einer anderen lag ein Sprengsatz. Der Polizeichef sprach von „Pogromstimmung“.

Ein lange nicht gehörter, ungewohnter Sound war dies alles. Rechte Gewalt hatte hier über viele Jahre hinweg nichts zu suchen, sie traute sich gar nicht her. Wenn jemand mit Steinen warf, dann waren es die Autonomen. Im Internet gibt es ein anonymes Selbstbezichtigungsschreiben. Es listet drei Dutzend „Aktionen“ auf, vom Angriff auf die Firma von Frauke Petry bis zum zerstörten Fahrkartenautomaten. Gesamtergebnis: Die Leipziger „GenossInnen“ sind deutscher „Randalemeister 2015“, steht in dem Schreiben.

Oley ist in Leipzig geboren, Jahrgang 1959, er lebt hier. Er hat die Dinge kommen und gehen sehen, die DDR, die Montagsdemonstrationen, die Wiedervereinigung. Er hat in dieser einstigen Buchdruckerstadt eine Druckerlehre gemacht, war vorher auf der Thomanerschule. Oley kennt das Alte und das Neue und die Kontinuitäten dazwischen. Er ist Sänger in einer Band, „Die Art“ heißt sie, „aus einem für alle unklaren Grund hat die bis heute Bestand gehabt“, sagt er.

Oley ist seit Jahrzehnten Teil der Leipziger Klangkulisse. „Die Art“ machen seit den 80ern Musik, sie sind damals eine selbstgemachte Tonbandkassette so oft losgeworden wie niemand sonst von der Konkurrenz. 2000 Exemplare. Es war Oley zufolge das „meistverkaufte Underground-Tape der DDR“ und damit auch etwas prägend dafür, wie von außerhalb auf Leipzig geschaut wurde und auf die Töne, die aus dieser Stadt kamen.

Er schreibt die Texte. Er sagt: „Das wirkliche Leben verarbeite ich nur entfernt.“

Legida geht ins zweite Jahr

Das wirkliche Leben in Leipzig, das hat Oley an diesem Morgen schon der Tageszeitung entnommen, ist angeblich ein ziemlich gutes. Von einer Umfrage war auf der Titelseite die Rede, der Gemütszustand der Stadt war vermessen worden. Er gehe „deutlich nach oben“, stand da. Die Leute würden immer glücklicher. Vier von fünf Leipzigern gaben an, zufrieden oder sehr zufrieden zu sein. „Kann schon stimmen“, sagt Oley. Zufrieden, das sei er eigentlich ja auch. Wozu notwendigerweise auch die Gelassenheit gehört, die er als Immer-noch-nicht-Nichtraucher selbst haben muss und die er den Bewohnern seiner Stadt zuschreibt.

Er schätzt an ihr, dass hier in den 80er Jahren die Gründung seiner Band möglich war. Es gab zwar gelegentlich Ärger, die Gruppe machte damals Punkmusik. Aber die Obrigkeit ließ sie meist in Ruhe. Er mag den Innenhof unter seinem Balkon und die Tannenmeise, die im Vogelhäuschen übernachtet.

Es kann alles stimmen, und doch sind da die Geräusche dort draußen. Legida geht nun schon ins zweite Jahr. Sie rufen Altbekanntes. „Wir sind das Volk“, sie sind wütend. „Ein wilder Wust von Unzufriedenheitsäußerungen“, sagt Oley.

Legida ist laut, die Neonazi-Randale vom Jahresanfang war es auch

Steinharte Gesichter sind dort zu sehen. In den Reden, die gehalten werden, geht es gegen alles. Einmal stand ein erwachsener Mann hinterm Mikrofon, der beschwerte sich über die Lehrer aus seiner Schulzeit und die Zensuren, die sie ihm gaben. Radio- und Zeitungsleute werden über Straßenbahngleise gejagt und geschlagen.

Legida ist laut, die Neonazi-Randale vom Jahresanfang war es auch. Selbst Hollywood dürfte davon Notiz genommen haben. Denn bei der Berlinale-Eröffnungsgala sagte Anke Engelke über einen in Potsdam produzierten Film: „George Clooney hat für ,The Monuments Men‘ viele Millionen investiert, um Deutschland in Nazi-Deutschland zu verwandeln. Dabei hätte er es billiger haben können – 180 Kilometer südlich in Leipzig.“

Das war ein bisschen gemein. Der Bürgermeister schrieb aber nur leicht angesäuert: „Danke Anke! Anke Engelke ist herzlich eingeladen nach Leipzig: Wir benötigen dringend Unterstützung beim Aufhängen der Fahnenspaliere auf unseren Prachtstraßen; unsere Exerzierplätze müssten gefegt werden.“

Oley sagt: Wenn Legida demonstriert, „will ich nicht in der Innenstadt sein“. Er sagt nicht, was so viele andere Leipziger sagen, wenn man sie nach Legida und dem Engelke-Satz befragt: dass Leipzig anders als Dresden sei. Leipzig sei – historisch gesehen – bürgerlich geprägt, hört man immer wieder. Dresden dagegen sei höfisch. Als würde das etwas erklären.

In Leipzig haben sich schon vor sehr langer Zeit die Handelsstraßen Via Regia und Via Imperii gekreuzt, daher die Weltoffenheit der Stadt. Legida ist kleiner als Pegida. Die Anzahl der Gegendemonstranten ist größer. Leipzig bekommt von Sachsens Regierung weniger Geld als Dresden. In Leipzig fand nicht wie in Dresden jahrelang die größte Neonazidemonstration Europas statt.

Leipzig ist ein Synonym

Munter gehen vermeintliche Ursachen und deren Wirkungen durcheinander. Leipzig wächst. Leipzig wird teurer. Leipzig hat einen funktionierenden Flugplatz, es hat Porsche und BMW. Es hatte Westfernsehen zu DDR-Zeiten. Die Messen damals. Die seien entscheidend gewesen. Leute aus der ganzen Welt waren zwei Mal im Jahr hier, da habe man Ausländer getroffen. Das klingt alles, als seien Menschen ihr Leben lang kleine Kinder.

Dann die Montagsdemonstrationen. Die Wiedervereinigung. Und Oley muss jetzt los, ins Band-Büro. Er läuft durch Schleußig, einen jener Stadtteile, die immer wieder abwechselnd als In-Viertel beschrieben werden. Betritt ein etwas heruntergekommenes Haus, über dessen Fassade ein Netz gespannt ist, fährt den Computer hoch. Was ist das eigentlich für ein Gemälde da an der Wand?

„Steht doch dran“, sagt Oley, „das ist von Rauch.“ Neo Rauch, Leipziger Schule, eine ihrer Galionsfiguren. Ein Frühwerk aus dem Jahr 1987, ein schwarzer Winkel auf grüngelbem Grund, oder ein Schiffsbug, nicht katalogisiert und deshalb ein Schnäppchen.

Neben all dem zeitgenössischen Wandel in der Stadt gehören die Maler zu den wenigen Kontinuitäten Leipzigs. Sie haben Aufmerksamkeit, und sie haben Erfolg. Sie haben es jedoch nicht geschafft, das eine Bild der Stadt zu malen. Das Synonym. Das, an das jeder denkt, der das Wort Leipzig hört.

"Wenn irgendetwas hier Bestand hat, dann ist es die Musik"

Dresden hat so etwas. „Wer Dresden hört, der hat sofort den Canaletto-Blick vor Augen.“ Das sagt Thomas Krakow. Er hätte so etwas auch gern für Leipzig, doch er denkt dabei nicht in Bildern. Er denkt an Musik. Krakow ist der Chef des örtlichen Richard-Wagner-Verbandes.

Die Messe? Da gebe es bedeutendere Städte in Deutschland, sagt er. Bei der Industrie auch. Und im Sport. Doch wenn hier irgendetwas wirklich groß und bedeutend sei, „wenn irgendetwas hier Bestand hat, dann ist es die Musik", sagt Krakow. Leute wie Oley. Oder Bands wie Renft. Kurt Masur, Mendelssohn Bartholdy, die Thomaner. Bach. Oder Robert Schumann. Und Richard Wagner.

Wagner wurde in Leipzig geboren, und es hat lange gedauert, diese Tatsache ins Bewusstsein der Stadt zu bekommen. Zu einem Teil ist das auch Krakows Werk.

Die größte Aufmerksamkeit seit Langem erfuhren der Komponist und sein Fürsprecher allerdings gerade jetzt. Eine Bürgerinitiative startete eine Petition mit dem Ziel, den Leipziger Richard-Wagner-Platz in Refugees-Welcome-Platz umzubenennen. Krakow initiierte eine Petition dagegen, er ging zu einer öffentlichen Diskussion mit seinen Widersachern, die Medien berichteten.

Es war ein mit Worten ausgetragener Kampf um das Bild der Stadt. Der Lärm am Rand hatte die Mitte erreicht, sie war am konkreten Beispiel eines Platznamens gezwungen, sich mit sich selbst und ihren Symbolen auseinanderzusetzen.

Leipzig ist von ganz Rechtsaußen wieder angreifbar geworden

Wagner sei einst auch ein politischer Flüchtling gewesen, argumentiert Krakow. Mit einer Umbenennung stoße man Wagner-Freunde vor den Kopf, die sich für Asylbewerber engagieren. Und ganz grundsätzlich müsse man bei Straßen- und Platznamen vorsichtig sein. Sie seien das Gedächtnis der Stadt, sie dürften nicht aus aktuellen politischen Gründen geändert werden. Für Entscheidungen wie diese brauche man historischen Abstand.

Der Grund in diesem Fall bestand darin, dass sich Legida regelmäßig auf dem Richard-Wagner-Platz – einer Einbuchtung des Stadtrings hin zur Innenstadt – versammelte. Krakow schaut aus seinem Verbandsbüro auf ihn herunter.

Anwohner waren von Legida genervt, Geschäftsleute. „Was können wir machen?“, habe man sich gefragt, berichtet eine der Initiatorinnen der Umbenennungsidee. „Wie schaffen wir einen Gegenpol?“ Die Frau möchte hier nicht mit ihrem Namen auftauchen, sie habe schon genug Drohungen deswegen erhalten.

Krakow und die Initiative stritten öffentlich. Sie hatten unvereinbare Meinungen, aber sie redeten miteinander. Das sei auch so eine Leipziger Linie, sagt er, seine zumindest, und der fühle er sich verpflichtet. Man höre hier einander zu, und dann zitiert er den Satz von Rosa Luxemburg. Der Satz begleite ihn seit der späten DDR, sagt Krakow. Er sagt: „Freiheit ist auch immer die Freiheit des Andersdenkenden.“ Am Ende entschied die Stadt in seinem Sinne.

Dann kam Legida

Spricht man hier wirklich so sehr miteinander, wie er behauptet? Eine Rechtsschutzversicherung hat einmal nachgezählt und ist auf den Umstand gestoßen, dass zumindest irgendwann Reden nicht mehr hilft und die Leipziger dann häufiger als andere vor Gericht gehen. Sie sind Spitzenreiter in Deutschland.

Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt, denn in den frühen 90er Jahren war dies noch anders. Damals – Krakow hatte gerade seine erste Wagner-CD geschenkt bekommen – waren Auseinandersetzungen in Leipzig oft gewalttätig. Es gab viele Neonazis in der Stadt, und es gab die Antifa. Diese Zeit aus der Nähe erlebt hat ein Dritter aus dem Leipziger Ewigkeitsreich der Musik. Er heißt Alexander Lange, hat mit seiner Band schon einmal im Vorprogramm von Oley gespielt, ist Autor eines ziegelsteinschweren Buchs über die Popband Depeche Mode. Vor allem aber ist er – so wie Krakow – Historiker, mit dem Schwerpunkt auf Jugendkulturen.

Er berichtet von der Zeit gegen Ende des Jahres 2014. „Ich hatte das Gefühl, wir haben es geschafft“, sagt Lange. „In Leipzig gab es kaum noch Nazis, die NPD war aus dem Landtag raus.“ Wenn sich alte Bekannte trafen, hätten die gesagt: „Wir haben alles richtig gemacht. Es kommen Leute nach Leipzig, unsere Lieblingsbands spielen hier, man kann sich angstfrei durch die Stadt bewegen, wenn man anders aussieht.“ Sogar Depeche Mode kommt regelmäßig. Dann kam Legida.

Alles kann einem wieder entrissen werden

„Das ist keine Eintagsfliege“, sagt Lange, „und der gesellschaftliche Diskurs ändert sich.“ Leipzig ist von ganz Rechtsaußen wieder angreifbar geworden. Und das eben auch wegen dieser wenigen hundert Menschen auf der Straße, „die agieren wie kleine Kinder im Supermarkt am Quengelregal. Solange, bis man den Kaugummi bekommt.“ Er macht ein besorgtes Gesicht dabei, er meint das ernst.

Lange kann voller Heimatstolz durch Leipzigs Süden radeln und dort vor allem auf Kulturhäuser zeigen. Hier das Nato, dort das Werk II, da unten das Conne Island. Da habe mal diese und mal jene Band gespielt. Leipzig sei so unglaublich reich an Kultur. Er sagt das fast wortgleich wie der Wagner-Mann Krakow, der als Beispiel dafür jedoch eine „Tannhäuser“-Inszenierung in der Oper aufführt.

Und dann bekommt Lange schlechte Laune. Diese „Wir sind das Volk“-Rufe bei Legida. „Wenn man“ – wie er – „im Herbst ’89 mit 70 000 Leuten oder 300 000 um den Ring gelaufen ist, hat das eine ganz andere Legitimation.“

Nichts sei heilig, das habe er gelernt, sagt Lange. Alles könne einem wieder entrissen werden. Selbst ein Monument wie jener Satz von damals.

Wenn man nur weit genug weg ist, verschwindet damit auch ein Bild von Leipzig, ein Synonym, das der Heldenstadt. Es wird ersetzt durch das, was Anke Engelke bei der Berlinale-Eröffnung im Kopf gehabt haben muss.

Ein Bild? Oder doch eher ein Klang?

Dieser Text erschien am 30. März 2016 auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel und war online zunächst über den Digitalkiosk Blendle verfügbar.

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