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Nachhaltige Politik: Bürger und Bürgerinnen, gestaltet euer Land!

Der sozialökologische Wandel auf globaler Ebene wird nur zustande kommen, wenn wir lernen, auf kommunaler Ebene die Weichen zu stellen. Ein Vorabdruck.

Die Berliner Politologin Gesine Schwan ist Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD. Am Mittwoch, den 27.1., erscheint ihr neues Buch „Politik trotz Globalisierung“ (wbg Theiss, Stuttgart, 224 Seiten, 25 €). Ihm ist der nachfolgende Essay in gekürzter Form entnommen.

In seinem Buch „Die große Transformation“ beschreibt der langjährige Direktor des Wuppertal Instituts Uwe Schneidewind, der im Jahr 2020 das Amt des Wuppertaler Oberbürgermeisters angetreten hat, Strategien zur politischen Umsetzung nachhaltiger Politik. Es geht ihm im Wesentlichen darum, zu zeigen, dass es immer menschliche Anstöße für den Wandel geben muss, und dass es dazu eines Bewusstseinswandels bedarf.

Zugleich stellt sich allerdings die Frage, von welchen Orten im politisch-gesellschaftlichen Raum Anstöße für globale nachhaltige Lösungen ausgehen können. Schneidewind stellt die Nachhaltigkeitsziele in den Mittelpunkt des sozialökologischen Wandels und mit ihnen das notwendige Zusammenspiel von Zivilgesellschaft, Unternehmen und Politik. Er betont die Notwendigkeit, dezentrale Initiativen für Nachhaltigkeit in einer umfassenden Orientierung miteinander zu koordinieren.

Die auf den Klimakonferenzen global vereinbarten Ziele und die kommunalen Initiativen müssen zueinander passen. Aber wie wir immer wieder beobachten, fällt es den nationalen Regierungen, auf sich allein gestellt, schwer, sie zu konkretisieren. Deshalb ist die politische Teilhabe der Bürger*innen in den Kommunen und Städten ein unverzichtbarer Motor. Sie zeigt: Wo Lösungen dringend und möglich sind, einigen sich Bürger*innen leichter als nationale Regierungen, die unter ganz anderem Lobbydruck stehen und sich oft der parteipolitischen Machtkonkurrenz unterwerfen.

Institutionen müssen reflexiv werden

Bürgerbeteiligung vor Ort bietet die Chance, Probleme aus vielfältigen Perspektiven anzugehen, systematische Zusammenhänge zu erkennen und damit der erforderlichen Komplexität der politischen Strategien gerecht zu werden. Schneidewind betont, dass die Transformation „reflektiert“, also unter Berücksichtigung der „Nebenwirkungen“, gestaltet werden muss. Er spricht deshalb von notwendig „reflexiven“ Institutionen.

Die von mir propagierten kommunalen Multi-Stakeholder-Entwicklungsbeiräte sind schon wegen ihrer inneren diversen Zusammensetzung solche Institutionen. Bei der großen nachhaltigen Transformation geht es auch nach Maja Göpel um einen radikalen, aber „inkrementalistischen“ Wandel. Die Bürger*innen müssen die Implikationen ihres Handelns überprüfen und sich darüber verständigen können. Das spricht wieder für Kommunen und Städte als Motor des Wandels.

Sie bringen in der Regel viele verschiedene Menschen zusammen und begünstigen kreative Initiativen. Was Uwe Schneidewind und Maja Göpel die „Große Transformation“ nennen, ist die unaufhörliche Anstrengung, alle Möglichkeiten vor Ort zu nutzen und zu erweitern – bei der Stadtentwicklung, beim Wohnungsbau, bei der Mobilität, bei der Erzeugung von erneuerbarer Energie, bei der Wärmeentwicklung.

Eine besondere Herausforderung stellt die Schließung von umweltschädlichen Industrien, insbesondere von Kohlekraftwerken, und damit der Verlust von Arbeitsplätzen dar. Hier wird wieder deutlich, dass Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit zusammengehören. Denn die Armen, vor allem im globalen Süden, leiden mehr unter der Klimaerwärmung als die Reichen im Norden.

Ungerechtigkeit bei den Klimaschutzkosten

Den Armen im Norden wiederum machen die Kosten des Klimaschutzes mehr zu schaffen als den Reichen. Die langfristigen Vorteile und kurzfristigen Nachteile des Klimaschutzes fallen oft nicht zusammen. Wer seinen Arbeitsplatz an seinem Wohnort verliert, hat nichts davon, wenn an anderen Orten neue Arbeitsplätze entstehen. In seiner ungehemmten Logik, ohne politische Regulierung, verlangt der Kapitalismus, dass die Menschen sich nach der Produktion richten, mit ihr mitwandern an einen anderen Ort. So geschah das meistens in der Geschichte. Ganze Landstriche verödeten, andere blühten auf.

Auch im chinesischen Staatskapitalismus gibt es deshalb Hunderttausende von Wanderarbeiter*innen, die von ihren Familien getrennt leben müssen. Was aus der Distanz nicht weiter berührt, zerstört von Nahem betrachtet Biografien und Menschenleben. Der Würde der Menschen entspricht es jedenfalls nicht, wenn sie zu Anhängseln der wirtschaftlichen Entwicklung werden. Aktuell reagieren sie bei Wahlen darauf oft mit Protest, Ressentiments oder Gewalt, votieren für rechtsextreme Parteien und bringen so ihre Enttäuschung zum Ausdruck. Für Demokratien ist das inzwischen zu einer überall sichtbaren Gefahr geworden. Deshalb ist es höchst dringlich, den sozialökologischen Wandel gerecht zu gestalten. International heißt die Forderung Just Transition.

Dabei trifft der dringend erforderliche Wandel in eine Situation, in der weltweit in den letzten vierzig Jahren die Gegensätze zwischen Arm und Reich unglaublich angewachsen sind. Das hat zu Erbitterung, Beschädigungen des Selbstwertgefühls und Ressentiments geführt. Vor allem aber sind viele Menschen misstrauisch geworden gegenüber „der“ Politik, aber auch gegenüber ihren Mitmenschen und gegenüber ihrer eigenen Wirkmächtigkeit.

Misstrauen in die Politiker

Der Aufbau einer neuen Wirtschaftsstruktur braucht deshalb vor allem Wege, auf denen die Menschen wieder neues Vertrauen entwickeln können. Viele Menschen glauben insbesondere demokratischen Politikern auf der nationalen Ebene kein Wort mehr, selbst wenn die sich um Ehrlichkeit bemühen. Meist fehlen Bürger*innen zudem die politische Erfahrung und das Wissen, Entscheidungen durchschauen und einordnen zu können. Neues Vertrauen kann nur entstehen, wenn die Menschen eigene neue, bessere Erfahrungen machen können.

Elinor Ostrom hat in ihren Untersuchungen zur Allmende gezeigt, dass gemeinschaftliche Nutzung von Eigentum dort funktioniert, wo die Teilhaber*innen das Verhalten untereinander erleben und überprüfen können. Da viele Bürger*innen, die vor einem Wirtschaftsstrukturwandel stehen, bisher die Notwendigkeit des Wandels nicht akzeptieren, ist ihre eigene Teilhabe an der Einschätzung der aktuellen Situation und der Erfordernisse des sozialökologischen Wandels – gerade auch in dessen größeren Zusammenhängen des Klimawandels – dringend erforderlich. Was willkürlich und sinnlos schien, wird dann eher plausibel.

Diese Zusammenhänge kommen in gemeinsamen kommunalen Entwicklungsbeiräten fast unvermeidlich auf die Tagesordnung. In den Kommunen der Lausitz und Umgebung, in Görlitz oder in Augustusburg, haben aktive Bürgermeister beim Aufbau eines solchen Vertrauens gute Erfahrungen gemacht. Wenn die Chance geboten wird, sich nicht nur zu beschweren oder sich sorgenvoll in die eigenen vier Wände zurückzuziehen, sondern Ideen vorzubringen und sie dann auch umsetzen zu können, dann entsteht eine positive Dynamik.

Kenntnis der eigenen Ressourcen

Vor Ort kennt man in der Regel die eigenen Ressourcen besser. Synergien und Investitionen können gezielter eingesetzt werden. In einem Entwicklungsbeirat können sich Vertreter der Kommunalverwaltung, von Unternehmen und der organisierten Zivilgesellschaft – von Gewerkschaften über die Caritas bis zu örtlichen Bürgerinitiativen – gegenseitig auf pfiffige Gedanken bringen. Das heißt nicht, dass die nationalen Regierungen und Parlamente die Hände in den Schoß legen und einfach auf die Bürgermeister warten können.

Sie haben z. B. in der „Kohlekommission“ (Kommission für Wachstum Strukturwandel und Beschäftigung) erfolgreich zum Ausstieg aus der Braunkohle und der nachfolgenden Gesetzgebung als legitimierte Parlamentarier*innen die langen Linien beraten und die Möglichkeiten des Budgets bestimmt – gemeinsam mit Vertreter*innen der organisierten Zivilgesellschaft und mit Unternehmen. Aber ohne eine Rückgewinnung des Vertrauens vor Ort, ohne die Initiative der Bürger*innen, selbst neue Produktionen, Arbeitsplatzideen oder Tätigkeiten zu entwerfen, praktisch umzusetzen und sich mit ihnen zu identifizieren, können Finanzierungen allein nicht viel bewirken.

Es gibt noch einen weiteren Grund, der dafür spricht, den sozialökologischen Wandel im Zusammenhang einer breiteren Entwicklungsperspektive anzugehen. Denn die Arbeit, die dann ausgeht – Kohle- oder Stahlproduktion, früher auch Textilproduktion oder Werften –, war immer ein unverzichtbarer Teil des Selbstverständnisses, der eigenen kulturellen Identität und des damit verbundenen Selbstwertgefühls. Soziale und wirtschaftliche Umbrüche finden immer in einem kulturellen, wertenden und emotionalen Kontext statt.

Nicht nur in Deutschland ist man stolz auf seine Arbeit. Die Lausitzer* innen waren stolz darauf, dass sie einen großen Teil der Energie für Deutschland lieferten. Die Bergarbeiter in Nordfrankreich haben das für ihr Land ähnlich gefühlt. Wenn ihre Arbeit auf dem veränderten Markt ihren Wert verliert, nimmt sich vielleicht die ganze Person als entwertet wahr. Dann entstehen Depressionen, Vereinzelung und Abwanderung. Menschen sind keine Maschinen, sondern Wesen, die sich selbst fühlen und bewusst wahrnehmen. Einen neuen Kontext aufzubauen, der das eigene Selbstwertgefühl stärkt, gehört also dazu, wenn der sozialökologische Wandel gelingen soll.

Kultur und Bildung sind unentbehrlich

Technokratische Maßnahmen genügen dafür nicht. Das hat handfeste Konsequenzen für eine Rückkehrpolitik, da z. B. in der Lausitz Arbeitskräfte für neue wirtschaftliche Aktivitäten fehlen werden. Dazu gehören attraktive Kultur- und Bildungsstätten, eine interessante lokale Architektur, die ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt. Chöre, Theaterwerkstätten, Fußballvereine, überhaupt Sport: All diese Aspekte finden sich in einem Entwicklungsbeirat zusammen, der den Horizont der gesamten Lebenswelt umfasst.

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Gemeinsame kommunale Entwicklung in kommunalen Entwicklungsbeiräten kann Schritt für Schritt enttäuschte Bürger*innen anregen, sich zusammenzutun, mit anderen Kommunen zu vernetzen, von ihnen zu lernen und einen eigenen Pioniergeist zu entfachen. So kann es gelingen, den sozialökologischen Wandel, der zunächst als Überforderung erlebt wird, als Anreiz für eine bessere Zukunft anzunehmen. Auch die Gerechtigkeitsfrage in der Just Transition lässt sich so besser bearbeiten. Denn wenn man die Verteilung der Güter und Finanzen im Fall der eigenen Kommune besser durchschaut, besteht eine gute Chance, das wichtigste pragmatische Gerechtigkeitsprinzip anzuwenden, nämlich sich an die Stelle der anderen zu setzen.

Das heißt nicht, dass man mit allem zufrieden sein wird. Im Gegenteil, man lernt dann hautnah den politischen Interessenkampf kennen. Aber der verschwindet nicht in einem Dickicht, das zu Verschwörungstheorien verleitet und Selbstmitleid wie Passivität fördert. Man kann im Gefühl der Selbstwirksamkeit eingreifen und politisch handeln. Politik macht dann doch Sinn! Sie zeigt Wirkung, und sie macht das eigene Leben im Zusammenhandeln mit anderen sinnvoll.

Gesine Schwan

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