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Der aktuelle Ministerpräsident Naftali Bennett könnte schon bald abgelöst werden - von wem, ist aber unklar.

© imago images/UPI Photo

Nach Verlust der Parlamentsmehrheit: Regierungskrise in Israel

Die Acht-Parteien-Koalition hat ihre Mehrheit verloren. Ist das die Chance für Benjamin Netanjahu, an die Macht zurückzukehren?

Nach knapp zehn Monaten im Amt hat Israels Koalition einen kritischen Punkt erreicht: Eine Abgeordnete der rechtsgerichteten Jamina-Partei des Ministerpräsidenten Naftali Bennett hat der Koalition den Rücken gekehrt - und ihr damit ihre Mehrheit von nur einem Mandat geraubt. Schon trumpft Benjamin Netanjahu, früherer Langzeit-Premier und nun Oppositionsführer, öffentlich auf.

Doch wie es weitergeht, ist noch längst nicht ausgemacht: Auch Netanjahu brächte nach aktuellem Stand keine Mehrheit zusammen. Es war am Mittwochmorgen, als die Abgeordnete Idit Silman alles ins Wanken brachte: Sie wolle kein Mitglied dieser Koalition sein. In ihrem Rücktrittsbrief an ihren Parteifreund Naftali Bennett schrieb sie, einige "führende Mitglieder der Koalition" seien in Fragen, die ihr selbst und ihren Wählen viel bedeuteten, "nicht kompromissbereit".

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Silman soll die Koalition für einen Ministerposten verlassen haben

Dem Bruch vorausgegangen war eine Auseinandersetzung zwischen Silman und Gesundheitsminister Nitzan Horovitz von der linken Meretz-Partei vor wenigen Tagen. Dabei ging es um das Pessachfest, das am Freitagabend beginnt und acht Tage dauert. In dieser Zeit verbietet das jüdische Gesetz den Verzehr gesäuerter Teigwaren, doch längst nicht alle Juden halten sich daran, von muslimischen und christlichen Bürgern ganz zu schweigen.

Dennoch hatten manche Krankenhäuser Besuchern in früheren Jahren das Mitbringen gesäuerter Teigwaren an Pessach verboten. Der Oberste Gerichtshof hatte diese Praxis 2020 mit Verweis auf Religionsfreiheit und Patientenwürde untersagt - und der Gesundheitsminister hatte kürzlich lediglich angemahnt, diese Entscheidung zu respektieren. Kein Stoff, aus dem Koalitionskrisen gemacht sind.

So vermuten denn auch viele Kommentatoren, dass Silman, die einer nationalreligiösen Gemeinde angehört, sich in Wahrheit von weltlicheren Motiven treiben lässt: der Hoffnung auf einen prestigeträchtigen Posten. Benjamin Netanjahu, von Freunden wie Feinden gefürchtet wegen seines Talents zur politischen Intrige, soll Silman in der nächsten Regierung unter seiner Führung den Posten der Gesundheitsministerin versprochen haben.

"Ich gratuliere ihr im Namen des israelischen Volkes"

Die israelische Zeitung Haaretz berichtete unter Berufung auf Insider, der Chef der oppositionellen ultrarechten Partei "Religiöser Zionismus", Bezalel Smotrich, habe schon letzten Sommer Kontakt zu Silmans Ehemann aufgenommen und die Beziehung seither strategisch gepflegt. Es soll denn auch Smotrich gewesen sein, der zuerst Wind von Silmans wachsender Unzufriedenheit mit der Koalition bekam - und prompt seine Gesinnungsgenossen im rechten Parteienblock informierte.

Israelische Nationalisten protestieren gegen die heterogene Koalition, die aus rechten, linken und arabischen Parteien besteht.
Israelische Nationalisten protestieren gegen die heterogene Koalition, die aus rechten, linken und arabischen Parteien besteht.

© AFP

Dem Rücktritt Silmans sollen lebhafte Verhandlungen zwischen ihr und Gesandten Netanjahus über ihre zukünftige politische Karriere vorausgegangen sein. "Ich habe mich sehr gefreut, die Erklärung der Knesset-Abgeordneten Idit Silman zu hören, und ich gratuliere ihr im Namen der Massen des israelischen Volkes, die sich diesen Moment gewünscht haben", ließ Netanjahu am Mittwoch verlauten.

Dazu forderte er weitere Abgeordnete der Koalition, die vom sogenannten "nationalen", sprich rechtskonservativen Lager gewählt wurden, "sich Idit anzuschließen und zu uns nach Hause zurückzukehren". Als weiterer Kandidat für einen Seitenwechsel gilt Nir Orbach, ebenso von der rechten Jamina-Partei Bennetts.

Opposition und Regierung haben nun gleich viele Sitze

Sich seiner gestiegenen Bedeutung bewusst, formulierte Orbach gestern drei Bedingungen für seinen Verbleib in der Koalition, darunter finanzielle Hilfen für orthodoxe Väter und eine Ausweitung der umstrittenen Siedlungsaktivitäten im Westjordanland. Den linken Kräften der Koalition dürften derartige Zugeständnisse äußerst schwerfallen. Doch selbst mit Orbachs Unterstützung erscheint das Fortleben der Acht-Parteien-Koalition aus Linken, Rechten und arabischen Islamisten zweifelhaft.

Mit 60 von 120 Abgeordneten wäre die Koalition von nun an bei jeder parlamentarischen Abstimmung auf Unterstützung der Opposition angewiesen. Sie könnte versuchen, eine gegnerische Partei zum Beitritt zu überzeugen, doch die Chancen stehen schlecht: Die Opposition setzt sich zusammen aus rechten, religiösen und arabischen Parteien, die bisher wenig Sympathien für die regierende Koalition gezeigt haben.

Neben Netanjahu hoffen auch Verteidigungsminister Benny Gantz sowie Außenminister Yair Lapid, neuer Regierungschef zu werden.
Neben Netanjahu hoffen auch Verteidigungsminister Benny Gantz sowie Außenminister Yair Lapid, neuer Regierungschef zu werden.

© REUTERS

Allerdings fehlen auch Netanjahu die nötigen Mandate, um eine rechts-religiöse Koalition aufzustellen. Neuwahlen böten eine Alternative, allerdings müsste sich auch dafür eine Mehrheit finden - und viele Abgeordnete düften aus Furcht davor, ihren Sitz zu verlieren, daran wenig Interesse haben. Manche Analysten erwarten, dass dem Land eine weitere Phase des politischen Stillstands ohne handlungsfähige Regierung droht.

Ob links oder rechts, jüdisch oder arabisch: Für niemandem in Israel wäre das eine gute Nachricht. Netanjahu gibt sich derweil unverdrossen siegesgewiss. Mittwochabend trat er vor einer Versammlung seiner Anhänger auf. "Wir sind heute Abend hierher gekommen, um dieser schwachen und gefährlichen Regierung nur eine Sache zu sagen", rief er in die Menge: "Geht nach Hause!"

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