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Kasse machen. Auch mehr als 3300 Gebäude und Grundstücke wurden konfisziert.

© Ammar Awad/Reuters

Nach Putschversuch: Türkei enteignet Tausende Firmen und Institutionen

Vermögen schafft politische Macht: Nach dem gescheiterten Putsch hat die Regierung in Ankara Geld, Grundstücke und Unternehmen im Wert von Hunderten Millionen Euro verstaatlicht.

Es ist noch nicht lange her, da wurden die Gebrüder Boydak in der Türkei als Vorbilder umjubelt. Als „anatolische Tiger“ feierte das Land die Familie aus Kayseri, die aus ihrer Möbelschreinerei einen Konzern mit zwei Milliarden Euro Umsatz machte; als „muslimische Calvinisten“ wurden sie wegen ihres Fleißes und ihrer Frömmigkeit auch international bekannt.

Doch als gebrochene Männer standen sie jetzt in Handschellen am Sarg ihrer Mutter. Schockiert sah die Trauergemeinde vor der Moschee in Kayseri zu, wie die führenden Kaufleute ihrer Stadt nach dem Totengebet wieder in den Gefangenentransport verladen wurden. Die Mutter hatte einen Herzinfarkt erlitten, als ihre Söhne wegen angeblicher Sympathien für den Prediger Fethullah Gülen abgeholt wurden. Und den milliardenschweren Konzern hat sich der Staat gegriffen – eine von tausenden Enteignungen, die auf eine gewaltige Umverteilung von Vermögen in der Türkei hinauslaufen.

Anordnung aufgrund des Ausnahmezustands

Rund 300 Unternehmen hat die türkische Bankenaufsichtsbehörde übernommen, seit die Regierung am 1. September per Notstandsrecht eine entsprechende Anordnung erließ. Das Dekret sieht vor, dass die Behörde die Firmen von mutmaßlichen Gülen-Unterstützern nach Gutdünken verkaufen oder liquidieren kann. Der Verkauf hat bereits begonnen, Rechtsmittel dagegen gibt es wegen des Ausnahmezustands ohnehin nicht. Der Erlös fließt in die Staatskasse. Nur wenn der enteignete Unternehmer später einmal seine Unschuld beweisen kann, soll er daran beteiligt werden, doch damit ist angesichts des Vorgehens der Justiz kaum zu rechnen.

Dafür dürften sich nun Freunde der Regierungspartei AKP auf gute Schnäppchen und Sonderkonditionen beim Kauf traditionsreicher Firmen freuen können, argwöhnen Enteignungsopfer. Auf mindestens zwölf Milliarden Euro wird der Wert der Unternehmen geschätzt, die der Bankenaufsicht bisher überschrieben wurden. Erst am Wochenende kamen die 43 Firmen der Kaynak-Gruppe dazu, deren Interessen von Druck und Papier bis zu Transport und Tourismus reichen.

Das ist längst nicht alles, was der Staat sich unter den Nagel gerissen hat. Insgesamt 4482 Firmen und Institutionen sind seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli verstaatlicht worden, sagte Finanzminister Naci Agbal jetzt der regierungsnahen Zeitung „Sabah“, darunter 35 Kliniken und Krankenhäuser, 2380 Privatschulen und 709 Nachhilfeschulen, 1156 Vereinsheime, 15 Universitäten, 31 Gewerkschaftssitze, 64 Sender und 92 Zeitungen.

Deren 3361 Gebäude und Grundstücke wurden dem Staat überschrieben, zusammen 7,2 Millionen Quadratmeter. Auch Bargeld und Wertpapiere im Wert von fast 150 Millionen Euro hat der Staat demnach von mutmaßlichen Gülen-Sympathisanten beschlagnahmt. „Damit wird dem Volk zurückgegeben, was dem Volk genommen worden ist“, sagte Finanzminister Agbal. Die Gülen-Anhänger hätten ihren Reichtum nicht ehrlich erwirtschaftet, sondern „den guten Willen“ der Türkei „missbraucht“, begründete er die Enteignungen.

1915: Griff nach armenischem Vermögen

Die Rechtfertigung erinnert fatal an frühere Umverteilungen in der Türkei. Denn die massenhafte Enteignung von Gülen-Sympathisanten ist nicht die erste derartige Aktion in der türkischen Geschichte – es ist aber das erste Mal, dass es Muslime trifft.

Eine der größten Umverteilungen von Vermögen in der neueren Geschichte war die Enteignung der Armenier von Anatolien im untergehenden Osmanischen Reich. Vorwand für die Enteignungen und Deportationen war damals der Vorwurf, armenische Rebellen hätten an der Ostfront die Russen unterstützt.

Planmäßig und organisiert wurde 1915 armenisches Vermögen eingezogen und teils an muslimische Unternehmer vergeben, um die Volkswirtschaft zu „türkifizieren“, teils vom Staat genutzt und teils in der Bevölkerung verteilt, um damit deren Zustimmung und Mitwirkung zu sichern. Der Griff nach dem Vermögen der Armenier war nach Einschätzung des Historikers Mehmet Polatel und anderer Experten ein wesentliches Motiv für die Deportationen von 1915. Auf dem enteigneten Vermögen der Armenier wurde die Volkswirtschaft der Türkischen Republik aufgebaut, die wenige Jahre nach dem Völkermord gegründet wurde.

Politische Macht setzt wirtschaftliches Vermögen voraus. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Finanzminister Agbal jetzt im Interview mit „Sabah“ von den Kosten für die Volksabstimmung sprach, mit der die Regierung im Frühjahr die Ablösung der parlamentarischen Demokratie durch ein Präsidialsystem absegnen lassen will. Die Staatskasse werde dafür ein Sonderbudget bereitstellen.

Eine „Neue Türkei“ wollen Staatschef Recep Tayyip Erdogan und seine AKP mit der Einführung des Präsidialsystems schaffen, mit dem die politische Macht auf seine Person und Partei konzentriert werden soll. Doch die dafür nötige Wirtschaftsmacht lag bisher in Händen von Erdogans einstigem Weggefährten und jetzigem Widersacher Fethullah Gülen. Dass es bei den Enteignungen vor allem um diesen Machtkampf geht, dafür spricht die Tatsache, dass der Zugriff auf den Boydak-Konzern wie auf die Kaynak-Gruppe und andere hochkarätige Unternehmen im vergangenen Herbst begann, also lange vor dem Putschversuch vom 15. Juli.

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