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Kampfesspuren. Ein afghanischer Lehrer im Eingang seiner von Einschusslöchern verzierten Schule im Dorf Arzo am Rand von Ghazni, südwestlich von Kabul.(November 2021).

© Elise Blanchard/AFP

Nach der Machtübernahme der Taliban: In den Trümmern des kolonialen Erbes

Wie ein souveränes Kalifat nach dem Vorbild des römisch-katholischen Vatikans die Radikalisierung der islamischen Welt hätte aufhalten können. Ein Essay.

Jonathan Laurence lehrt Politikwissenschaft am Boston College. Der nachfolgende Essay bündelt entscheidende Thesen seines jüngsten, in der Princeton University Press erschienenen Buches „Coping with Defeat: Sunni Islam, Roman Catholicism and the Modern State“. Gregor Dotzauer hat den Text aus dem amerikanischen Englisch übersetzt.

Ein Jahrhundert nach der Unabhängigkeit Afghanistans von der britischen Herrschaft und 20 Jahre nach dem 11. September 2001 signalisiert der vollständige Abzug des US-Militärs eine unwiderrufliche Neuordnung des alten kolonialen Puzzles. Zum Entsetzen vieler haben die Taliban angefangen, eine „Modellgesellschaft“ einzuführen, die sich allein auf den Koran, die Berichte über den Propheten, den sogenannten Hadith, und die Sunna, das traditionelle Normengefüge, stützt. Zur Genugtuung anderer werden sie damit das erste Kalifat seit dem Untergang des Osmanischen Reiches wiederbeleben.

Die Taliban haben gesiegt, wo Isis und Al-Qaida versagt haben. Das wieder erwachende Islamische Emirat ist damit die entschlossenste (sunnitische) Antwort auf die Ende des letzten Kalifats seit der (schiitische) Revolution im Iran. Es gibt keinen islamischen Konsens über die Notwendigkeit eines solchen Staatswesens, aber sein Fortbestehen ist unvermeidlich. Die faktische Existenz eines sunnitischen Kalifats schließt eine 150 Jahre währende Klammer westlicher Interventionen gegen ein solches Gebilde. Man muss das Taliban-Regime nicht gutheißen, um seinen Platz in der islamischen Geschichte anzuerkennen.

Die bloße Existenz der Taliban ist das Ergebnis einer Kampagne gegen das osmanische Kalifat im 19. Jahrhundert. Das britische Empire versuchte, über 100 Millionen muslimische Untertanen in Nordafrika, dem Nahen Osten, Indien und Afghanistan von ihren Bindungen an den osmanischen Islam zu lösen. London fürchtete den Einfluss des Kalifen als einziger unabhängiger muslimischer Macht jener Zeit und kappte alle Verbindungen zur geistigen Führung Istanbuls zugunsten lokaler Alternativen.

Turban statt Fez

Die Kolonialbeamten arbeiteten daran, den Kalifen beim Freitagsgebet zu ersetzen und den türkischen Fez durch den lokalen Turban zu ersetzen. Dies schuf Raum für Institutionen wie das 1866 begründete Haus der Gelehrsamkeit (Darul Uloom) im indischen Deoband. Ein anglo-muslimisches College, gegründet für indische und afghanische Religionsgelehrte, versuchte, deren Loyalität vom türkischen Sultan-Kalifen auf die Regierung Ihrer Majestät umzulenken. Jedoch war das Modell des Darul Ulooms auf ganz andere Art attraktiv. Nach der Teilung Britisch-Indiens in Indien und Pakistan im Jahr 1947 entstanden immer mehr Ablegermadrassas, die sich bis ins benachbarte Afghanistan ausbreiteten.

Das Muster unbeabsichtigter Folgen lässt sich im gesamten ehemaligen britischen Empire erkennen. Im Nahen Osten stürzte London die osmanische Herrschaft mit dem Versprechen arabischer Souveränität. Nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft fielen die Städte jedoch unbeabsichtigten Nachfolgern zu. In Jerusalem hatten die Briten das Amt des Mutfti geschaffen, doch als der erste Inhaber plötzlich starb, wurde er durch seinen Bruder ersetzt, der sich später mit Nazideutschland verbündete. Auch die Einsetzung des britischen Verbündeten Hussein bin Ali als Herrscher über Mekka und Medina währte nicht lange. Er wurde von der saudischen Königsfamilie und wahhabitischen Fundamentalisten verdrängt.

Die Sultan-Kalifen des späten Osmanischen Reichs konnten zwar nie den Anspruch erheben, universelle Anziehungskraft zu besitzen, doch sie hatten das größte Netz von Moscheen, Wohltätigkeitsorganisationen, Seminaren und Gelehrten aufgebaut, das es je gab. Die geistliche Führung wandte sich an ein Publikum, das fast ausschließlich außerhalb ihrer Grenzen lebte.

Nutzung neuester Technologien

Ihr Wirken war global, religiös gemäßigt und auf Modernisierung ausgerichtet, und sie nutzten neue Technologien – von der Eisenbahn bis zur Fotografie und dem Telegrafen. Kurz nachdem sie von den heiligsten Stätten des Islam vertrieben worden waren, wurde das Kalifat jedoch von der neuen türkischen Republik abrupt beendet. Ihre Abschaffung durch türkische Staatsmänner war ein Gnadenstoß: die Institution wurde durch die europäische Besetzung des gesamten Gebiets der sunnitischen Welt ausgehöhlt.

Nichtarabische muslimische Stimmen wie die indische Khilafa-Bewegung waren darüber verärgert. Viele arabische Muslime wiederum fühlten sich durch das flüchtige Interesse Großbritanniens an ihrer Sache verraten: Es hatte ein Kalifat gestürzt, ohne den Aufstieg eines anderen zu garantieren. Es ist kein Zufall, dass die dauerhaften Bruderschaften des internationalen politischen Islams – die Jam’at I Islami und die Ikhwan – zuerst dort aufblühten, wo die Briten ihren Angriff auf das letzte Kalifat gestartet hatten.

Seit nunmehr fast einem Jahrhundert zahlt der Islam auf internationaler Ebene einen hohen Preis für die Intervention von außen. Das Fehlen des Kalifats ist ein zentraler Grund für kommunale Konflikte, einschließlich der Ausbreitung des politischen Islams und religiös motivierter Gewalt. Das fehlende Kalifat hielt die muslimischen Gemeinschaften in einem Fegefeuer gefangen, das von transnationalen Anwärtern wie dem ägyptischen Arzt Yusuf al-Qaradawi, dem jemenitischen Scheich Osama bin Laden und dem irakischen Theologen Abu Bakr al Baghdadi einerseits und den staatlich ernannten Gelehrten und nationalen Ministern für islamische Angelegenheiten in den Nationalstaaten mit muslimischer Mehrheit andererseits bevölkert wurde.

Mehr als die Hälfte der Muslime auf der Welt lebt in Ländern, in denen der Islam teilweise oder vollständig etabliert ist. Die Religionsausübung unterliegt einem staatlichen Monopol, wobei außerhalb der eigenen vier Wände nur wenige oder gar keine privaten islamischen Räume erlaubt sind: Es gibt keine religiöse Zivilgesellschaft. Die religiöse Legitimität jedes dieser Ministerien wird von nichtstaatlichen Bewegungen angefochten, sowohl von der Muslimbruderschaft, die demokratische Wahlen akzeptiert, als auch von gewalttätigen Rivalen wie Al-Qaida und dem Islamischen Staat.

Isolierter Vatikan

Um eine Analogie herzustellen: Nach dem Ende des osmanischen Kalifats befand sich die muslimische Welt in den Wirren des islamischen Gegenstücks zur römischen Frage. Das war die Zeit nach der Einigung Italiens, als der Papst zum ersten Mal seit über einem Jahrtausend seiner territorialen Souveränität beraubt wurde. Nach jahrzehntelangem Widerstand gegen die Demokratisierung und dem Versuch, die Trennung von Kirche und Staat aufzuheben, war der Vatikan militärisch, politisch und diplomatisch isoliert. Außerhalb seiner Mauern mussten der Klerus und die religiöse Führung heftige Eingriffe über sich ergehen lassen: Auf dem Höhepunkt des Antiklerikalismus schnitten die Regierungen die nationalen Hierarchien von Rom ab, verlangten von Priestern und Bischöfen Loyalitätserklärungen und schränkten die Aktivitäten von Diözesen und Seminaren streng ein.

Die staatliche Kontrolle über die internen Ernennungen von oben nach unten und die Enteignung kirchlicher Besitztümer im späten 19. Jahrhundert ist mit der Situation des Islam in weiten Teilen der muslimischen Welt heute vergleichbar. Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Mauern des Vatikans nie niedergerissen wurden und der Papst in Rom bleiben durfte. Um den Platz des Katholizismus in der internationalen Ordnung zu klären, war es nötig, den Vatikan als gleichwertiges Gegenstück einzubeziehen.

Ein irdisches Gemeinwesen unter souveräner päpstlicher Herrschaft musste zugelassen werden. Zunächst wurde dieser Staat nur langsam anerkannt, vor allem von Ländern mit katholischer Bevölkerungsmehrheit – die USA warteten damit bis 1983.

Die Gründung des Vatikanstaats war kein Selbstläufer, aber sie gewährte der Kirche ein geistiges Nachleben in der Ära der Nationalstaaten. Das Papsttum blieb zwar jahrzehntelang eine unangefochtene antidemokratische Kraft, aber es befand sich nicht mehr im Krieg mit der entstehenden politischen Ordnung. In einem nächsten Schritt hin zu einer zivilen Koexistenz von Staat und Religion stellten die Regierungen an den nördlichen und westlichen Ufern des Mittelmeers die organisatorische Unabhängigkeit der katholischen Amtskirche wieder her. Nach und nach gewann die Kirche die Autonomie über ihre internen Angelegenheiten – von der Kleriker-Ausbildung bis hin zur Ernennung von Bischöfen – zurück.

All dies war möglich, weil die Beseitigung der weltlichen Macht des Papstes das Papsttum an seinem Platz ließ. Es trat in die neue Weltordnung als souveräner Staat ein, dessen globale Gemeinschaft unter päpstlicher Führung vereint ist – wenn auch auf rein symbolischer Basis. Der Papst hat Hunderte von Millionen von Anhängern und Bewunderern, aber er regiert über weniger als 1000 Bürger. Dies hat die Art von Politisierung der Religion, die in der muslimischen Welt Wurzeln geschlagen hat, abgeschwächt.

Brücke zur Vergangenheit

An den südlichen und östlichen Ufern des Mittelmeers wurde keine solche Brücke zur Vergangenheit geschlagen. Die Idee einer Verwaltung des Islams nach vatikanischem Vorbild entstand während der Besetzung Istanbuls durch die Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Exil des letzten Kalifen, bleibt die neu gestellte Grundfrage übrig: Sollen islamische Ressourcen im Dienste des Staates mobilisiert werden oder umgekehrt?

Die Taliban haben darauf eine klare Antwort. Doch während der Staat Vatikanstadt nur eine Handvoll Einwohner auf einer Fläche von der Größe des Central Park hat, leben im Emirat Afghanistan 40 Millionen Menschen auf einer Fläche, die doppelt so groß ist wie Deutschland. Und trotz der Beteuerungen Kabuls ist es nicht schwer, sich die Taliban als ein Leuchtfeuer des religiösen Extremismus für eine halbe Milliarde Muslime in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft vorzustellen.

Die religiöse Autorität, die einst von Istanbul auf dem Balkan, auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika ausgeübt wurde, ist heute auf Dutzende von Ministerien und Behörden in den nationalen Regierungen der mehrheitlich muslimischen Welt verteilt. Die heutigen Staaten sind außerdem daran gewöhnt, muslimische Bürger vor ausländischen religiösen Einflüssen und kriegerischem Dschihadismus zu schützen.

Die säkularen Regierungen des 20. Jahrhunderts schufen nur zum Teil die Bedingungen, die ein nationales Korps von Ulema und Imamen hervorbringen konnten. Dort, wo die staatlich subventionierten Vorbeter finanziell über mehr Moscheen und eine religiöse Grundausbildung verfügen, hatten die Regierungen die Möglichkeit, sich gegen extremistische Bedrohungen zu wehren.

Andererseits hat eine Politik, die Religion absichtlich herunterspielt – Schließung von Seminaren, mangelnde Bereitstellung von Moscheen und Gebetsleitern – die Bürger anfällig für transnationale Bewegungen gemacht, die auf dem Boden gedeihen, auf dem religiöse Traditionen entwurzelt worden sind.

Europas antiklerikale Politik

Im Falle der römisch-katholischen Kirche wich die extreme antiklerikale Politik in Europa einem neuen Gleichgewicht. Christdemokratische Parteien traten in das parlamentarische Leben ein. Die religiösen Dienstleistungen für die römisch-katholische Bevölkerung wurden schrittweise auf die Gesellschaft übertragen und die Autonomie der Kirche bei der internen Auswahl der Führungskräfte wiederhergestellt.

Um langfristig eine neutrale Verwaltung islamischer Angelegenheiten zu erreichen, wie dies für den römischen Katholizismus in Westeuropa erreicht wurde, müssen auch Staaten, in denen Muslime entweder in der Mehrheit sind oder eine signifikante Minderheit bilden, diese Phase der staatlichen Kontrolle verlassen. Solange die religiösen Rechte der Muslime und die internationale Anerkennung des Islam in die Geopolitik verstrickt bleiben, besteht die Gefahr, dass die staatliche Regulierung wieder in eine politische Überwachungsrolle zurückfällt, statt öffentliche Dienstleistung zu sein.

Ohne solche Fortschritte ist es vergeblich, Beweise für die „Kompatibilität“ des Islam mit der pluralistischen Demokratie zu suchen – oder seine Bereitschaft, eine Reformation lutherischer Art zu tolerieren. Immerhin haben Hunderte Millionen Katholiken unter kirchlicher Führung beides kategorisch abgelehnt, bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil vor einer Generation.

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Vorerst werden Regierungen mit muslimischer Mehrheit wie die Türkei ihre beträchtlichen religiösen Ressourcen nutzen, um alle lokalen Bemühungen zur Talibanisierung zu blockieren. Die internationale Rolle der Türkischen Republik als Verteidigerin des Islam in den letzten 15 Jahren hat zu einem Anstieg der Popularität ihrer Führung im gesamten Nahen Osten geführt und sich gegen die Optionen von Al-Qaida und den Führern des Islamischen Staates abgesetzt. Wenn das islamische Emirat Afghanistan zu vormodernen Praktiken weiter zurückkehrt, Frauen ausschließt und körperliche Züchtigung für Unmoral verhängt, könnte dies als Gegenbeispiel dienen, das die relative Glaubwürdigkeit der Türkei innerhalb der globalen Umma bestätigt.

Ankaras Haltung gegenüber Jerusalem und die weltweite Bereitstellung von Außenhilfe für die muslimische Bevölkerung durch mehrere Hilfsorganisationen haben diese Wahrscheinlichkeit erhöht. Intern jedoch, in der Türkei wie in Tunesien und anderen sich demokratisierenden Ländern der Welt mit muslimischer Mehrheit, ist die religiöse Neuausrichtung, die auf den harten Säkularismus folgte, noch im Gange.

Über die Zukunft eines internationalen Kalifats sagte der französische Gelehrte Louis Massignon vor einem Jahrhundert sehr treffend: „Je weniger die europäischen Staaten in diesen innermuslimischen Streit eingreifen, desto besser wird es für alle sein.“ Nach dem Abzug der letzten westlichen Truppen aus Afghanistan kann dieser Streit wieder aufgenommen werden.

Jonathan Laurence

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