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Deutschstunde. Am Anfang steht das Erlernen der neuen Sprache.

© Alexander Heinl/picture alliance / dpa

Nach der Einigung im Asylstreit: Abschied von der Willkommenskultur

Viele wollten helfen, damals. „Wir schaffen das“, sagte Angela Merkel. Heute geht es um Transitzentren, Asyltourismus und Ausschiffungsplattformen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es war einmal. Die Zeit, um die es geht, liegt nur kurz zurück, kaum drei Jahre. Die Erinnerungen an sie sind frisch und klar. Für die Stimmung, die damals herrschte, wurde ein Wort geprägt, es heißt "Willkommenskultur". Gemeint waren Menschen, die halfen. Häuser wurden geöffnet, Kleider gesammelt, Spenden eingetrieben, Flüchtlingscafés eröffnet. Die "Bild"-Zeitung verteilte Anstecker mit dem Hashtag #refugeeswelcome und dem Motto "Wir helfen". Begleitet wurde die Aktion von anrührenden Geschichten. Da war die Schauspielerin aus Berlin, die drei Schutzsuchende aus Pakistan eine Woche lang bei sich wohnen ließ. Da war das Ehepaar, das sich um den Syrer Ali kümmerte. Da war der Apotheker, der einen jungen Flüchtling bei sich einstellte. "Unsere Aktion bewegt ganz Deutschland", jubelte die Zeitung.

Es war einmal. Heute dreht sich die Debatte um Ankerzentren, Transitzentren, Ausschiffungsplattformen, Hotspots, Sekundärmigration, Asyltourismus, geschlossene Zentren, kontrollierte Zentren, die Neuregelung der Migrationspolitik, Kontrollverlustminimierungen, Verwaltungsabkommen, Grenzregime. Das letzte Wort taucht, ganz selbstverständlich, im ersten Satz des sogenannten Kompromisses von CDU und CSU auf: "Wir vereinbaren an der deutsch-österreichischen Grenze ein neues Grenzregime", heißt es da und niemand stört sich an dem Begriff, keiner runzelt die Stirn oder protestiert gar. Ein neues Grenzregime, das klingt vor allem nach einem sehr alten Grenzregime.

Deutschland, insbesondere Berlin, ist seit Generationen ein Einwanderungsland und wird es bleiben. Das Verlangen nach Regeln ist kein Abschied von unserer vorbildlichen Willkommenskultur.

schreibt NutzerIn dieDefinatorin

Es war einmal. Wir haben viel gelernt in den vergangenen drei Jahren. Dass man mit der Bergpredigt kein Land regieren kann, dass es den Barmherzigen Samariter nur in der Bibel geben soll, dass mit den vielen Flüchtlingen auch viele Probleme kamen. Eines nach dem anderen wurde durchdekliniert. Kulturschock, Bildungsrückstand, Spracherwerbsdefizite, Frauenverachtung, Homophobie, Antisemitismus, Macho-Gehabe, Gewalt, Kriminalität. Immer schneller drehte sich das Rad des Grauens. Die Silvesternacht von Köln, der Terroranschlag vom Breitscheidplatz, der Mord an Susanna. Es schien, als sollten die Gutmenschen für ihre Naivität bestraft werden. Immer zahlreicher wurden die Mahner und Warner, die es angeblich schon immer gewusst hatten.

Immer weniger wagen die Flucht nach Europa

Es war einmal. Am Tag, als CDU und CSU ein neues Grenzregime vereinbarten, starben wieder Menschen im Mittelmeer, 63 Personen werden seit dem Untergang eines Flüchtlingsschiffes vermisst, hieß es. Seit Anfang des Jahres ertranken mehr als tausend Menschen im Mittelmeer. Immer weniger wagen die Flucht nach Europa, dennoch sprechen Experten von einem "alarmierenden Anstieg von Todesfällen". Der Deutsche Kapitän des Rettungsschiffes "Lifeline" wurde unterdessen auf Malta gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Der 57-Jährige darf das Land nicht verlassen. Die "Seawatch", ein anderes Seenotrettungsschiff, wird am Auslaufen gehindert. Im Gedächtnis taucht das Bild von Alan Kurdi auf, dem kleinen, syrischen Jungen, der tot am Strand der Türkei lag.

Es war einmal. In Ungarn sind künftig Menschen, die Flüchtlingen helfen, mit Haft bedroht. Das Parlament stimmte vor wenigen Tagen für ein Gesetz, das bis zu einem Jahr Haft für diejenigen vorsieht, die Flüchtlingen ohne Schutzberechtigung helfen, Asylanträge einzureichen, oder die illegal eingereisten Migranten helfen, in Ungarn zu bleiben. Aus Flüchtlingshelfern sind humanitätsduselige Verbrecher geworden. Hier und da ist noch ein Geistlicher oder Grüner, zu hören, der das beklagt, ansonsten ist es still, verschämt still.

Es war einmal. "Wir schaffen das", hatte Angela Merkel gesagt. Und: "Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Auch das liegt keine drei Jahre zurück - und klingt wie aus einer anderen, fernen Zeit. Not kennt kein Gebot, weiß der ach so kluge Volksmund. Dass ausgerechnet die, die behaupten, dem Volk aufs Maul zu schauen, diese Redensart bekämpfen, ist eine weitere, bittere Pointe.

Realisten rächen sich an Idealisten

Es war einmal. Das Pendel schlägt zurück, hart und kräftig. Selbst ernannte Realisten rächen sich an selbst ernannten Idealisten. Abschottung, im Politsprech "Grenzsicherung", ist eine ehrenwertere Tugend geworden als Flüchtlingshilfe. Wie es aber weitergeht, weiß keiner. Deutschland schickt nicht registrierte Flüchtlinge, die in einem anderen EU-Land Asyl beantragt haben, nach Österreich zurück. Österreich schickt sie nach Italien zurück. Und Italien? Hört auf, die Flüchtlinge zu registrieren und verweigert Schiffen von Rettungsorganisationen das Anlaufen seiner Häfen. Und dann? Vogel Strauß.

Es war einmal. Am Tag nach dem Kompromiss von CDU und CSU atmet die Wirtschaft auf, die Börse beruhigt sich. Hauptsache keine Krise, keine Neuwahlen, alles andere ist egal. Wer jetzt weiter gegen wen und wie lange, wer gewonnen, wer verloren und sich blamiert hat: Darüber wird noch lange debattiert. Dass jemals wieder ein Flüchtlingsschicksal in den Fokus gerät, ist eher unwahrscheinlich. Mehr als tausend Übergriffe auf Muslime und islamische Einrichtungen wurden 2017 in Deutschland erfasst. Etwa die Hälfte der Deutschen fühlen sich durch den Islam "bedroht" oder "sehr bedroht".

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