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Auf dem Stephansplatz in Wien trauern Menschen um Lisa-Maria Kellermayr.

© Alex Halada, AFP

Nach dem Suizid der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr: Was verboten ist, muss auch geahndet werden

Menschen machen virtuell Jagd auf andere Menschen. Die Dynamik, die das auslöst, ist unberechenbar. Es ist höchste Zeit für eine Grenzziehung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Sie war Ärztin, warb für Maskenpflicht und Corona-Impfungen. Sie trat im Fernsehen auf, war in sozialen Medien aktiv. Sie erhielt Morddrohungen und musste ihre Praxis schließen, weil sie sich die Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr leisten konnte.

Nun nahm sich die Österreicherin Lisa-Maria Kellermayr das Leben. Sie wurde 36 Jahre alt, hinterließ drei Abschiedsbriefe. Ihre Widersacher, radikale Impfgegner, reagierten mit weiterer Hetze. Wer deren Einträge liest, blickt in seelische Abgründe.

Die Motivlage ist bei Suiziden oft sehr komplex. Dennoch lässt sich kaum bestreiten, dass Lisa-Maria Kellermayr auch ein Opfer digitaler Gewalt wurde. Sie litt unter den Anfeindungen, hatte Angst. So geht es vielen. Seit der Nachricht von ihrem Tod haben sich mehrere Prominente, die ebenfalls im Fadenkreuz einer Meute stehen, aus den sozialen Netzwerken zurückgezogen.

Es ist grotesk: Während Russland in der Ukraine wütet, Waldbrände und Überschwemmungen vom Klimawandel zeugen, ganz Europa in einer Corona-, Energie- und Inflationskrise steckt, verbringen Menschen ihre Zeit damit, Jagd auf andere Menschen zu machen. Zumindest virtuell.

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Da wird gepöbelt und geschimpft, gehetzt und verleumdet. Die Dynamik, die das auslöst, ist unberechenbar. Über Nacht kann jede und jeder von tausendfachen Wutblitzen getroffen werden. Manchmal zieht das Gewitter weiter, manchmal verstärkt es sich.

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Die sozialen Medien sind kein rechtsfreier Raum. Gemeint ist: Sie sollten nicht rechtsfrei sein. Den zivilisierten Nutzern schwebt eine Art herrschaftsfreier Diskursraum vor, der von gegenseitigem Respekt geprägt ist, vom Ausredenlassen, Zuhören und Abwägen.

Doch dieser Traum ist naiv. Die Öffentlichkeit ist divers und aktionistisch. Das Zugangsprivileg, über das einst Journalisten und Politiker verfügten, hat sich aufgelöst. Wer sich bei Twitter anmeldet, muss Öffentlichkeit aushalten können. Dazu zählen zynische, sarkastische und polemische Kommentare. Zum Gemeinwesen gehören Gemeinheiten. Die Meinungsfreiheit muss verteidigt werden.

Das Strafrecht wurde verschärft

Doch sie endet, wo das Strafrecht beginnt. Was in der realen Welt verboten ist, muss auch aus der virtuellen verbannt werden. Mordaufrufe, Beleidigungen, üble Nachrede, Volksverhetzung, die Billigung von Straftaten, die gefährdende Verbreitung von „Feindeslisten“ mit personenbezogenen Daten: Das Strafrecht wurde in den vergangenen Jahren verschärft.

Spätestens seit der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 hat sich die Sensibilität für das Thema Hasskriminalität im Internet deutlich erhöht.

Nicht zuletzt aus eigener Betroffenheit ist bei vielen Politikern die Einsicht gewachsen, dass die Kausalkette vom Wort zur Tat, von der Agitation zur Aktion, frühzeitig durchbrochen werden muss. Das gilt im nationalen wie im internationalen Rahmen.

Vor vier Wochen beschloss das EU-Parlament strengere Vorgaben für die Netz-Plattformen der Internetriesen. Sie müssen stärker gegen Hass- und Falschnachrichten vorgehen, Terrorpropaganda schneller löschen.

Die Internetkonzerne haben geklagt

In Deutschland soll das durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz geleistet werden. Allerdings hapert es bei dessen Umsetzung an einer entscheidenden Stelle.

Ursprünglich war vorgesehen, dass die Plattformanbieter ab Februar 2022 möglicherweise strafbare Inhalte, inklusive IP-Adresse, an eine beim BKA angesiedelte Stelle melden. Doch dagegen haben die Internetkonzerne geklagt und bekamen aus Datenschutzgründen Recht. Jetzt hängt die Sache. Es ist höchste Zeit, eine juristische Klärung herbeizuführen.

Verbote sollen abschrecken. Bleiben Verstöße gegen sie ungeahndet, verlieren sie ihre abschreckende Wirkung. „Du kannst ja gerne mit Anwälten drohen“, schrieb einer an Lisa-Maria Kellermayr, „aber kriegen werdet ihr mich nicht. Stattdessen habe ich nun beschlossen, dich zu kriegen.“ Niemand in einem Rechtsstaat darf sich das gefallen lassen müssen.

Haben Sie dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können.

Der Berliner Krisendienst ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern variieren nach Bezirk, die richtige Durchwahl für Ihren Bezirk finden Sie hier.

Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: www.telefonseelsorge.de

Der Tagesspiegel berichtet üblicherweise nicht über Suizide. Der vorliegende Fall hatte allerdings schon breite öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, als noch von einem Unglück auszugehen war. Daher setzen wir die Berichterstattung im gebotenen Umfang fort.

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