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Anhänger Erdogans in Istanbul.

© AFP/ OZAN KOSE

Nach dem Referendum: Die Türkei ist im Inneren zerrissen

Das Ergebnis des Referendums könnte für Erdogan zu einem Pyrrhussieg werden. Doch der Präsident setzt weiter auf die Nationalisten - und wirbt erneut mit der Todesstrafe.

Wer Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabend zuhörte, ohne von dem äußerst knappen Ergebnis des Referendums über die Einführung des Präsidialsystems zu wissen, hätte annehmen können, der 63-jährige spreche über einen überwältigenden Erdrutschsieg. Vom Balkon seiner Istanbuler Residenz am Bosporus aus dankte er tausenden Anhängern für ihr "Ja" zum Umbau des Staates und stellte unter dem Jubel der Menge die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht. Zugeständnisse an die fast 24 Millionen Menschen, die gegen seinen Plan stimmten, gab es nicht, im Gegenteil. Erdogan lag noch nie viel am Konsens mit Andersdenkenden, das wird sich jetzt nicht ändern. Dabei ist das Land tief gespalten, wie das Referendum gezeigt hat.

Rund 51 Prozent der Wähler votierten für die Umwandlung der Türkei in eine Präsidialrepublik, in der Erdogan als Staatsoberhaupt möglicherweise bis 2029 mit weitreichenden Machtbefugnissen regieren kann. Die größte Reform in der Türkei seit Errichtung der Republik im Jahr 1923 ist perfekt – seit Staatsgründer Atatürk hat kein Politiker eine solche Machtfülle gehabt. Als die Resultate nach Ende der Stimmabgabe einliefen, erklang aus den Kirchen der Istanbuler Innenstadt gerade das Glockengeläut zum Osterfest: Die christlichen Gotteshäuser läuteten damit gewissermaßen die neue türkische Republik ein.

Erdogan blickt nun auf die Präsidenten- und Parlamentswahl 2019, bei der das neue System offiziell in Kraft treten soll. Als Antwort auf Rufe seiner Zuhörer nach der Todesstrafe sagte er, dies sei eine seiner ersten Aufgaben. Sollte es im Parlament nicht genügend Stimmen für eine solche Verfassungsänderung geben, werde erneut ein Referendum angesetzt, versprach er. Das Thema soll vor allem nationalistische Wähler motivieren, die für Erdogans Wiederwahl in zwei Jahren wichtig sein werden.

"Eine Tragödie für alle Demokraten"

Dass ein solcher Schritt das Ende der türkischen EU-Bewerbung zur Folge hätte, ist Erdogan offenbar egal. Die Türkei erwarte vom Ausland und besonders von jenen Ländern, die als Verbündete bezeichnet würden, Respekt vor dem Ausgang der Volksabstimmung, sagte er mit Blick auf die Spannungen zwischen der Türkei und der EU sowie den USA. Da wird Erdogan möglicherweise enttäuscht werden. Kati Piri, Türkei-Berichterstattering im Europa-Parlament, nannte das Ergebnis der Volksabstimmung eine „Tragödie für alle Demokraten“.

Auch Erdogan-Gegner in der Türkei befürchten Schlimmes. Zum Beispiel Ali Bayramoglu, einer der bekanntesten Journalisten der Türkei und über lange Jahre ein Anhänger des Präsidenten. Kürzlich hatte Bayramoglu verkündet, beim Verfassungsreferendum mit Nein zu stimmen. Die Quittung erhielt er bei der Stimmabgabe in Istanbul: Er wurde von Erdogan-Anhängern verprügelt.

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Was ihm widerfahren sei, könne als Symbol für die Lage des Landes insgesamt verstanden werden, sagte Bayramoglu später. Erdogan und seine Regierungspartei AKP herrschten mit eiserner Faust, Widerstand werde nicht geduldet. Bayramoglu und andere befürchten, dass jetzt der staatlicher Druck auf Andersdenkende zum Bestandteil der Staatsräson wird.

Die Opposition erkennt das Ergebnis nicht an

Aus Sicht Erdogans und der AKP war das Ergebnis vom Sonntag ein Sieg über Kritiker wie Bayramoglu. Doch die Opposition erkennt das Ergebnis nicht an und spricht von großflächigem Wahlbetrug. Die säkularistische CHP kündigte Einspruch gegen die Resultate in fast der Hälfte der Wahllokale an.

Mit besonderer Verärgerung reagierte die Opposition auf die Entscheidung der Wahlkommission in Ankara, auch Stimmzettel anzuerkennen, die nicht wie vorgeschrieben vom jeweiligen Chef des betroffenen Wahllkokals abgestempelt wurden: Dies sei eine Einladung zum Wahlbetrug. Die Wahlkommission erwiderte, ähnliche Entscheidungen seien bereits bei früheren Wahlen getroffen worden.

Berichte über Unregelmäßigkeiten gab es aus allen Landesteilen. Im Internet kursierte ein Video, das angeblich zeigte, wie Wahlhelfer im südostanatolichen Sanliurfa unbenutzte Wahlzettel per Stempel mit einem „Ja“ versehen.

Die Anhänger des Präsidenten feierten den Sieg am Sonntagabend mit Autokorsos und Feuerwerken. Dagegen schlugen die Bewohner von Stadtvierteln, in denen die Opposition stark ist, am Abend an offenen den Fenstern ihrer Wohnungen wütend Kochtöpfe, Pfannen und Deckel zusammen, um gegen den Präsidenten zu protestieren. Im Istanbuler Stadtteil versammelten sich Erdogan-Gegner zu einer Protestkundgebung. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu erklärte, wenn gut die Hälfte des Landes gegen Erdogans Präsidialplan votiere, könne die neue Verfassung wohl kaum als Gesellschaftsvertrag bezeichnet werden.

Die Türkei ist im Inneren zerrissen

So ist absehbar, dass Erdogans neue Republik mit vielen Problemen zu kämpfen haben wird: Das Land ist im Innern zerrissen und in den Außenbeziehungen teilweise isoliert.

Vizepremier Veysel Kaynak räumte noch vor Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses ein, das Ja-Lager habe nicht die erhoffte Anzahl von Stimmen erhalten. Er hat recht. Einen strahlenden Erfolg konnte Erdogan am Sonntag nicht feiern – das Ergebnis war knapper als vielfach erwartet und könnte sich als Pyrrhus-Sieg entpuppen. Zwischen dem Ja-Lager und den Gegnern der Reform lagen nur 1,25 Millionen Stimmen – in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern ist das eine sehr dünne Mehrheit.

Die Wähler in den drei größten Städte des Landes mit zusammen 25 Millionen Menschen – Istanbul, Ankara und Izmir – lehnten Erdogans Reform ab. Zum ersten Mal seit seiner Wahl zum Istanbuler Bürgermeister im Jahr 1994 hat Erdogan in der Millionenstadt am Bosporus keine Mehrheit hinter sich.

Dieses Ausmaß des Widerwillens ist angesichts der Zustände im Land und dem Druck auf Erdogan-Gegner erstaunlich. Auch war die Opposition im Wahlkampf klar benachteiligt: Die Medien schenkten Erdogan und seiner AKP viel mehr Zeit und Zeilen als deren Gegnern, die Führung der legalen Kurdenpartei HDP saß im Gefängnis.

Besonders wichtig für Erdogan waren die Stimmen der türkischen Auslandswähler, die mehrheitlich auf seiner Seite stehen. Laut Ergebnissen vom Sonntagabend stimmten zwei von drei türkischen Wählern in Deutschland für Erdogan.

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