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Nach dem blutigen Mittwoch mit mehr als 520 Toten rüsten sich die Sicherheitskräfte in Ägypten gegen neue Massenproteste der Muslimbruderschaft. Die Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi riefen zu Demonstrationen an diesem Freitag auf.

© dpa

Update

Nach dem Gewaltexzess in Ägypten: Neue Proteste in Kairo und Alexandria

Der Westen kritisiert die Gewalt, in der muslimischen Welt gibt es Solidaritätskundgebungen mit den Muslimbrüdern. Am Nachmittag stürmten Islamisten in Kairo das Gebäude einer Provinzverwaltung.

Die Ablehnung der exzessiven Gewalt der ägyptischen Sicherheitskräfte bei der Räumung der Protestlager in Kairo ist einhellig. Doch außer der Türkei hat sich kein Land ganz eindeutig gegen die Linie der ägyptischen Regierung im Umgang mit den Anhängern des vor sechs Wochen gestürzten demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Mursi von den Muslimbrüdern ausgesprochen. Allerdings haben Deutschland, Großbritannien, Italien und Frankreich am Donnerstag die ägyptischen Botschafter einbestellt, ein Mittel, das insbesondere in Frankreich eher selten zum Einsatz kommt.

Die Zahl der Toten bei den Unruhen in Ägypten ist offiziellen Angaben zufolge auf 522 gestiegen. Dies teilte der Sprecher des Gesundheitsministeriums, Mohammed Fatallah, am Donnerstag mit. Bislang hatte die Regierung von 421 Opfern gesprochen. 289 der Opfer seien bei der Räumung von zwei Protestcamps der Islamisten im Nordosten und Süden Kairos ums Leben gekommen, sagte Fatallah. Nach offiziellen Angaben sind 3572 Menschen verletzt worden. Rund 3000 Islamisten haben am Donnerstagnachmittag die Straße vor der Al Iman Moschee in Kairo gesperrt, wo fünf Opfer aufgebahrt worden waren. Die meisten Toten wurden in Moscheen abgelegt, Tausende Angehörige suchten nach ihren Vätern, Kindern oder Frauen.

Nach der blutigen Räumung der Protestcamps in Kairo hat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU), eine zeitweilige Aussetzung der wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit mit Ägypten in einzelnen Punkten ins Gespräch gebracht. Angesichts des  gewaltsamen Vorgehens der Übergangsregierung gegen Anhänger der islamistischen Muslimbruderschaft stelle sich die Frage, ob es Bereiche der Kooperation mit Kairo gebe, die zeitweilig suspendiert werden könnten, „um ein Zeichen zu setzen“, sagte Polenz dem Tagesspiegel. Gemeinsame Projekte bei der Entwicklungszusammenarbeit – etwa zur Verbesserung der Trinkwasserversorgung – sollten aber trotz der politischen Entwicklung in Kairo fortgeführt werden, sagte der CDU-Politiker weiter.

Die Internationale Reaktion ist unentschlossen

"Das ist der Anfang einer systematischen Zerschlagung der Muslimbrüder, anderer Islamisten oder anderer Gegner des Militärputsches", sagt Eman Shahin, Politikprofessor an der Amerikanischen Universität in Kairo, der "New York Times". Weiter sagte er: "Am Ende wird der Westen auf der Seite der Sieger stehen." Die internationalen Reaktionen auf die gewaltsame Räumung der Protestlager passen ganz gut zu dieser Analyse.

Der amerikanische Außenminister John Kerry sagte in der Nacht zum Donnerstag, die "bedauerlichen Ereignisse" seien "ein schwerer Schlag für die Versöhnungsbemühungen". Weiter sagte Kerry: "Das ist ein entscheidender Moment für alle Ägypter. Der Weg in die Gewalt führt zu größerer Instabilität, wirtschaftlichem Desaster und Leiden." Kerry vermied eine klare Verurteilung des Polizei- und Armeeeinsatzes in Kairo am Mittwoch. Ein Sprecher des UN-Generalsekretärs Ban Ki Moon sagte, er bereue, dass die ägyptischen Sicherheitsbehörden sich entschieden hätten, Gewalt anzuwenden, "obwohl die große Mehrheit des ägyptischen Volkes ihr Land friedlich voranschreiten sehen wollen und sich einen Prozess in Richtung Wohlstand und Demokratie wünschen". China rief zu "äußerster Zurückhaltung auf", während Russland lediglich seine Landsleute zur Vorsicht mahnte.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton dagegen wählte klarere Worte. Sie verurteilte die Gewalt "scharf". Ashton sagte, dass "nur eine gemeinsame Anstrengung aller Ägypter und der internationalen Gemeinschaft das Land zurück auf einen Pfad einer alle umfassenden Demokratie bringen können". Nur so könnten Ägyptens "Herausforderungen" überwunden werden.

Die Europäer haben insgesamt jedoch eine ähnlich uneindeutige Haltung gewählt wie die USA. Der britische Premierminister David Cameron wird vom britischen Sender BBC mit den Worten zitiert, dass "Gewalt gar nichts lösen wird", notwendig seien "Kompromisse von allen Seiten". Der deutsche Außenminister, Guido Westerwelle (FDP), der sich gerade in Tunis befindet, sagte: "Ich verurteile den Einsatz von Gewalt zur Räumung der Plätze am gestrigen Tage in Ägypten mit großem Nachdruck." Weiter sagte Westerwelle: "Es darf keine Eskalation der Gewalt beginnen." Dem Botschafter sei am Donnerstag "in aller Deutlichkeit die Haltung der Bundesregierung dargelegt" worden, teilte das Auswärtige Amt am Nachmittag mit. Frankreichs Präsident Francois Hollande sagte, ein Bürgerkrieg müsse mit allen Mitteln verhindert werden. Ein Sprecher Hollandes sagte, der Präsident habe "die blutige Gewalt in Ägypten mit aller Entschlossenheit verurteilt und ein sofortiges Ende der Unterdrückung gefordert". Dänemark stoppte umgehend zwei kleinere Entwicklungsprojekte.

Verständnis für die Regierung äußerten dagegen die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain. In einer gemeinsamen Erklärung gaben sie bekannt, dass sie die Notwendigkeit verstünden, "die Ordnung wieder herzustellen".

Solidaritätskundgebungen in der muslimischen Welt

Dagegen stellte sich der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan eindeutig hinter die Muslimbrüder in Ägypten. Er nannte die Gewalt vom Mittwoch einen "schweren Schlag für die Hoffnungen auf eine Rückkehr zur Demokratie". Am Donnerstag forderte er ein schnelles Treffen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. "Diejenigen, die im Angesicht dieses Massakers weiter schweigen, sind so schuldig wie die, die es angerichtet haben", sagte er in Ankara bei einer Pressekonferenz. In der gesamten muslimischen Welt versammelten sich vor den ägyptischen Botschaften Islamisten und Unterstützer der gestürzten Regierung von Mohamed Mursi. In Istanbul, der jordanischen Hauptstadt Amman, in der tunesischen Hauptstadt Tunis, aber auch in Kuwait, Indonesien und Malaysia kam es zu Solidaritätskundgebungen.

Der Chef der gemäßigt islamistischen Regierungspartei in Tunesien sagte: "Die Entwicklung in Ägypten sollte uns zum Dialog zwingen", sagte er. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte am Nil sei Zeichen für das “Scheitern der Demokratie in Ägypten“. Ghannouchi gab zugleich zu, dass die von seiner Partei geführte Regierung in Tunesien es auch nicht geschafft habe, die politischen und die wirtschaftlichen Probleme Tunesiens zu lösen. “Wir haben Fehler gemacht, aber das ist kein Grund für einen Staatsstreich“, sagte Ghannouchi.

Die International Crisis Group hatte in ihrem Report vor einer guten Woche bereits die internationalen Reaktionen auf den Militärputsch in Ägypten ganz ähnlich eingeschätzt, wie Eman Shahin nun das Echo auf das die gewaltsame Räumung der Protestlager in Kairo. "Indem die USA und die EU sich - widerstrebend - weigern, den Sturz Muris als Putsch zu bezeichnen, haben sie tatsächlich das Militär unterstützt in der Hoffnung, dadurch Einfluss darauf zu gewinnen, wie sich das Militär verhält", heißt es in dem Report "Marching in Circles: Egypt's dangerous second transition". Vor allem in den USA sieht die International Crisis Group ein vorherrschendes Gefühl, sich mit der ägyptischen Armee aus geostrategischen Gründen nicht allzu sehr entfremden zu wollen. Das Ergebnis der strategischen und politischen Überlegungen in EU und den USA beschreibt die Crisis Group als "relatives Zick-Zack, ein Durchwursteln".

Angriffe auf Kirchen, Gewalt auf der Sinai-Halbinsel

Nach einer Nacht mit Ausgangssperre brannte Kairo am Morgen an einigen Stellen noch immer. In der Nacht zum Donnerstag sind an vielen Orten von Sympathisanten der Muslimbrüder auch Kirchen angezündet worden. In Alexandria wurde am Donnerstagnachmittag ein Marsch der Muslimbrüder gestoppt, als er sich einer koptischen Kirche näherte. Auf dem Sinai starb ein Polizist, als Extremisten das Feuer auf einen Offiziersclub der Polizei eröffneten. Die offizielle ägyptische Nachrichtenagentur Middle East Agency meldete derweil, dass ein Gericht die Untersuchungshaft für den abgesetzten Präsidenten Mohamed Mursi um 30 Tage verlängert habe.

Die Muslimbrüder kündigten weiter Widerstand an: "Wir werden solange weiter machen, bis wir den Militärputsch überwunden haben", twitterte ein Sprecher der Muslimbrüder, Gehad al Haddad. Er fügte aber mit Blick auf die vor allem im Westen geäußerten Befürchtungen, die gewaltsame Räumung der Protestcamps könnte bewaffnete islamistische Terroristen hervorbringen: "Wir werden immer gewaltfrei und friedlich bleiben. Wir bleiben stark, trotzig und entschlossen."

Touristen machen sich Sorgen, die Wirtschaft will bleiben

Derweil brechen die Buchungen von Touristen für einen Ägyptenurlaub ein. Deutsche Urlauber trauen sich seltener nach Ägypten als noch vor einem Jahr, es gebe aber keine Storno- oder Umbuchungswelle berichten die Veranstalter. Beim Marktführer Tui Deutschland liegen die Buchungen deutlich unter dem Vorjahr. Der DER Touristik-Konzern spricht von einer "schwachen Nachfrage". FTI meldete für den Sommer steigende Buchungszahlen, für die Wintersaison jedoch Rückgänge. Matthias Brandes von Thomas Cook und Neckermann weist jedoch darauf hin, dass die Buchungen ohnehin noch nicht wieder auf dem Niveau des Jahres 2010 gewesen seien. "Ägypten hat sich noch nicht von der Revolution erholt, sagte Brandes.

Dagegen planen nach Informationen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) Unternehmen bisher nicht, Ägypten zu verlassen. Nach DIHK-Angaben sind 80 deutsche Unternehmen in dem nordafrikanischen Land vertreten und beschäftigen dort rund 24 000 Menschen. Die ausländischen Direktinvestitionen belaufen sich nach DIHK-Angaben auf 73 Milliarden Euro, rund eine Milliarde stamme aus Deutschland. Dagegen stoppten einige andere ausländische Konzerne die Produktion in Ägypten, darunter der schwedische Haushaltsgerätehersteller Electrolux und die Opel-Mutter General Motors. “Die Sicherheit unserer Mitarbeiter ist von größter Bedeutung für uns. Wir werden die Situation weiterhin genau beobachten“, begründete ein Sprecher des Detroiter Konzerns den Schritt am Donnerstag. (mit dpa und Reuters)

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