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Bundeskanzler Olaf Scholz und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang des Jahres.

© dpa

Nach dem Eklat Steinmeier-Selenskyj: Deutschland sollte jetzt bloß nicht beleidigt reagieren

Das Misstrauen gegen die deutsche Russlandpolitik sitzt tief. Berlin muss reagieren. Schlüsselrollen haben Bundespräsident und Kanzler. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Manche Widersprüche lassen sich nicht auflösen. Weil jede der gegensätzlichen Sichtweisen ihre Berechtigung hat. Wolodymyr Selenskyj möchte Frank-Walter Steinmeier nicht in Kiew empfangen. Für ihn ist er der Vertreter der verhängnisvollen Russlandpolitik, die Wladimir Putin zum Kalkül verleitet hat, er könne die Ukraine straflos angreifen.

Dazu ein Architekt der deutscher Abhängigkeit von russischer Energie, die Berlin hindert, sofort auszusteigen und Russland wichtige Devisen zu nehmen. Und ein Mitschuldiger daran, dass die Bundeswehr blank ist und Deutschland kaum Waffen an die Ukraine abgeben kann. Warum soll Selenskyj eine Person, die für ihn eine Mitschuld am Krieg trägt, willkommen heißen?

Doch Steinmeier ist Staatsoberhaupt der Deutschen. Ihn auszuladen ist nicht nur ein Affront gegen seine Person, sondern gegen das, was er repräsentiert.

War das klug, und liegt der Eklat im Interesse der Ukraine? Selenskyj hofft – zu Recht –, dass Berlin mehr tut: Finanzhilfe, Waffen, Reduzierung der Energieimporte, auch wenn das der Wirtschaft schadet und Jobs kostet. Das kann die Bundesregierung wagen, solange die Deutschen Solidarität mit der Ukraine empfinden.

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Mit der Ausladung spaltet Selenskyj die Öffentlichkeit. Viele haben Verständnis für ihn, viele nicht. Zudem erschwert er es Kanzler Olaf Scholz, rasch nach Kiew zu kommen, am besten mit der Zusicherung, schwere Waffen zu liefern. Unmöglich wird der Besuch nicht, aber nun wird es wohl dauern, bis es dazu kommt.

Von allen Regierenden der vergangenen Jahrzehnte hat Steinmeier die schärfste Selbstkritik geübt und folgenschwere Fehler eingestanden. Selenskyj hätte den von Warschau geplanten Besuch der fünf Präsidenten – drei baltische Staaten, Polen und Deutschland – in Kiew nutzen können, um den Druck auf Berlin zu erhöhen. Der Affront stärkt umgekehrt die Bremser. Sieht Selenskyj das nicht?

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Die Frage öffnet eine dritte Perspektive: Anders als die Staatsoberhäupter und Regierenden weiter westlich sitzt Selenskyj nicht in einem freundlichen Amtszimmer in friedlicher Umgebung. Er lebt seit sieben Wochen im Bunker, in Lebensgefahr für sich und seine Familie.

Täglich muss er Horrorgeschichten von Tod, Zerstörung und Kriegsverbrechen verarbeiten und an sein Volk sowie die Welt kommunizieren. Darf man da erwarten, dass er die selben Maßstäbe von Diplomatie anlegt?

Sein Ziel ist, die Zögerlichen im Westen aufzurütteln. Voran Deutschland, das mächtigste Land Europas, das immer noch nicht tun möchte, was viele Partner in Nato und EU erwarten.

Selbstbild der Ampel versus Wahrnehmung von außen

Denn auch bei der Bewertung der deutschen Reaktionen auf den Krieg zeigt sich ein unauflösbarer Widerspruch. Da ist das Selbstbild der Ampelparteien: Sie sind superschnell und mutig, haben lauter alte Maxime aufgegeben, liefern Waffen in Kriegsgebiete, verschärfen Sanktionen, erhöhen die Verteidigungsausgaben.

Für diese Revolution erwarten sie Lob. Doch die meisten Partner sehen es anders: Die Ampel tue zu wenig zu spät.

Was nun? Politik und Gesellschaft sollten vor allem der Versuchung widerstehen, beleidigt zu reagieren. Und sich bemühen, die Lage mit den Augen der Anderen zu sehen: den Augen Selenskyjs, der Opfer, der Balten und Polen, die Putin selbst fürchten. Und sie sollten darüber nachdenken, warum die Anderen die Deutschen nicht so sehen, wie die sich selbst sehen.

Schlechte deutsche Traditionen im Umgang mit den Nachbarn im Osten

Deutschland hat eine traurige Tradition des Umgangs von oben herab mit seinen östlichen Nachbarn. Es nimmt sie weniger ernst als die im Westen. Es erteilt ihnen lieber Ratschläge, als ihren Rat anzunehmen.

Der Bundespräsident könnte den Anfang machen. Indem er nicht nur zur Kenntnis nimmt, dass er in Kiew unerwünscht ist, sondern darüber hinaus Verständnis dafür äußert. Denn darin ist er sich doch mit Selenskyj einig: Deutschland hat eine fatale Russlandpolitik betrieben und muss die Folgen energisch korrigieren. Jetzt erst recht, wo unübersehbar wird, wie tief das Misstrauen sitzt.

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