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Rosa Wände, pinkfarbene Träume? Kein Problem! Das sind Phasen, die gehen vorbei.

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Muttertag und Töchterfragen: Wie bringt man Mädchen zu hochfliegenden Plänen?

Jungs werden Chefs – das ist klar. Aber was ist mit den Mädchen? Wie bringt man die zu hochfliegenden Plänen? Ein Erfahrungsbericht.

Von Susanna Nieder

Ein kleines Mädchen schiebt einen hölzernen Puppenwagen. Darin sitzt ein Junge, der größer und schwerer ist als sie. Aber das stört das Mädchen nicht. Es lacht laut und schiebt den ächzenden Wagen und den Jungen darin kreuz und quer durchs Wohnzimmer. Ganz so, als sei das gar nichts.

Das Mädchen war unsere Tochter mit anderthalb, der Junge ihr Bruder. Spätestens da war klar: Sie hat eine unbändige Kraft, und sie weiß genau, was sie will. Wenn diesem Mädchen einmal der Mumm abhandenkommt, dann ist etwas gründlich schiefgelaufen.

Das Wort führen die Jungs, auch hier bei der Tagesspiegel-Jugendseite

Ich stellte mir die Zukunft meiner Tochter vor, betrachtete die Jugendlichen, die hier beim Tagesspiegel die Jugendseite machten, und kam ins Grübeln. Einige Jahre lang moderierte ich die Jugendkonferenz, die einmal im Monat zusammenkam, um die Unter-18-Seite zu besprechen, die ehemalige Jugendmeinungsseite. 20 bis 30 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren diskutierten über selbst gewählte Themen. Alle waren sie intelligent und gut ausgebildet – aber das Wort führten fast immer die Jungs. Die waren die Entspannten, die Einfallsreichen, die Querdenker und Glossenschreiber. Unter den Mädchen gab es viele engagierte, kluge, zuverlässige, aber in Diskussionen kamen wenige von ihnen wirklich ins Spiel. Es konnte zwar vorkommen, dass eine dann einen Text schrieb, der Kraft und Witz spüren ließ – aber viel zu selten. Und das lag nicht daran, dass die Jungs sich in den Vordergrund gedrängt hätten.

Als vor anderthalb Jahren unser Jugendblog gegründet wurde, war es ein 18-jähriger Junge, der die Verantwortung übernahm. Er sucht bis heute immer wieder Jugendliche, die sich vorstellen können, sich verantwortlich um ein Themengebiet zu kümmern – Mädchen findet er so gut wie keine. Denn die sind vollkommen damit ausgelastet, alles richtig zu machen.

Mädchen sind gut in der Schule, besser als Jungs - und dann?

Wir erziehen unsere Mädchen dazu, im System zu funktionieren. So bringen sie in der Schule gute Ergebnisse, mittlerweile bessere als die Jungen – aber sie werden dadurch nicht frei, anzuecken, neue Wege zu gehen, ihre eigene Sicht der Dinge zu entwickeln, etwas auszuprobieren und möglicherweise zu scheitern.

Das hat natürlich viele Gründe. Aber um es gleich zu sagen: Rosa ist nicht das Problem. Lasst die kleinen Mädchen ihre pinke Phase ausleben, bis die Netzhaut knistert, dann müssen sie es als gestandene Frauen nicht heimlich tun. Solange ein Mädchen ordentlich Dreck vom Spielplatz unter den rosa lackierten Fingernägeln hat und Pippi Langstrumpf so gut kennt wie Prinzessin Lillifee, gibt es keinen Anlass zur Sorge.

Der Sohn ist überall angeeckt, die Tochter war immer brav

Woran es unter anderem liegen könnte, dass Mädchen gute Noten haben und Jungs später Chefs werden, wurde sehr schnell deutlich, als die Kinder in die Schule kamen. Unser Sohn wurde zuerst eingeschult. Ist er angeeckt? Ja, was denn sonst! Drei Schuljahre lang konnte er nicht glauben, dass die im Ernst von ihm verlangen, still zu sitzen und den Mund zu halten. Vielen anderen Jungen ging es ähnlich. Der Schulranzen? Eine Ausgrabungsstätte mit archäologischen Schichten von Brotkanten, Spielzeugteilen, vergessenen Mitteilungszetteln, Heften vom vergangenen Schuljahr. „Ihre Tochter wird damit keine Probleme haben“, kündigte seine Lehrerin an. Und genau so kam es auch.

Auch das Unkonforme muss man lernen, das machen Mädchen nicht

Rosa Wände, pinkfarbene Träume? Kein Problem! Das sind Phasen, die gehen vorbei.
Rosa Wände, pinkfarbene Träume? Kein Problem! Das sind Phasen, die gehen vorbei.

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Unsere Tochter und ihre Freundinnen halten mit Vergnügen ihre Schulsachen in Ordnung, erledigen reibungslos ihre Hausaufgaben und schaffen es vergleichsweise leicht, im Klassenzimmer ruhig zu sein. Das kann die Lehrerin nur freuen, denn die hat ja alle Hände voll mit den Jungen zu tun, deren spezielle Jungenenergie im Schulunterricht selten abgerufen wird und deshalb in alle Richtungen austreibt.

Die Lehrerinnen kümmern sich liebevoll - um die frechen Jungs

Was lernen die Kinder daraus? Ich kann nur von unserer Schule sprechen, wo die Lehrerinnen voll und ganz hinter den Kindern stehen. Bei gemeinsamen Freizeitunternehmungen behandeln sie die unruhigen Schüler genauso liebevoll wie den Rest der Klasse. Das ist ganz wunderbar und soll sich keinesfalls ändern. Im Schulalltag verwenden sie viel Aufmerksamkeit und Kreativität darauf, den Krawallmachern zu helfen, sich in den Unterricht zu integrieren – und das sind vornehmlich Jungen. Die lernen so erstens, sich in eine Gruppe einzufügen, und zweitens, dass sie angenommen werden, auch wenn sie sich nicht wunschgemäß verhalten.

Die Sache ist nur: Wenige Mädchen kommen in die Lage, das je für sich auszuprobieren. Sie verhalten sich ja meistens wunschgemäß, integrieren sich und haben keinen Grund, ihr Verhalten zu ändern. Für sie läuft alles glatt.

Wenn sie das System hinterfragen sollen, fehlt ihnen dafür die Erfahrung

Wenn es aber später darum geht, auf eigene Ideen zu kommen, das System zu hinterfragen, Widerspruch zu riskieren, fehlt ihnen die Erfahrung, dass sie sich das ruhig trauen können. Sie haben das nie ausprobiert.

Wie werden unsere kleinen wilden Mädchen überhaupt so, dass die meisten sich so viel müheloser ins Schulsystem einfädeln als viele Jungen? Zum Teil liegt es sicher am System selbst, das vielen Mädchen mehr entgegenkommt als Jungen. Aber warum fällt ihnen Stillsitzen, Zuhören, Ordnunghalten leichter? Hat das was mit Hormonen zu tun? Oder haben wir das unseren Töchtern beigebracht, ohne es zu merken?

Wir haben die Kinder so gleich wie möglich behandelt

Wir haben immer versucht, unsere beiden Kinder gleichzubehandeln. Aber sie sind eben nicht gleich, vom ersten Tag an nicht, genauso wenig wie wir. Der Versuch früherer Elterngenerationen, Mädchen Autos in die Hand zu drücken und Jungs Puppen, ist kläglich gescheitert. Im gesamten Bekanntenkreis unserer Kinder gibt es nur ein einziges Mädchen, das von sich aus noch nie etwas mit Rüschen und Puppen zu tun haben wollte. In der Schule gehört sie trotzdem zu denen, die alles richtig machen. Auf den Klassenfotos von diesem Schuljahr sitzen die Mädchen mit sittsam zusammengepressten Knien, im Schoß gefalteten Händen und leicht schräg gestellten Beinen eine neben der anderen. Von wem haben die das? Ist das die Haltung, die wir Mütter ihnen unbewusst vermitteln? Ist es das, was ihre Väter sich von ihnen – und vor allem: für sie – wünschen? Und wenn nicht, warum sitzen diese Grundschulkinder im Jahr 2015 mitten in Berlin wie First Ladys aus den 50er Jahren?

Die Großmutter war die Erste im Dorf, die studierte. Was für ein Aufbruchswille!

Rosa Wände, pinkfarbene Träume? Kein Problem! Das sind Phasen, die gehen vorbei.
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Zumal meine eigene Mutter in den 50er Jahren auf dem Weg raus aus der untergeordneten Frauenrolle und rein in die gesellschaftliche Teilhabe war. Als Erste aus ihrem Dorf studierte sie und erwarb 1956 den Doktortitel in Philosophie. Mein Großvater schätzte Bildung sehr hoch und legte sie seinen Töchtern ebenso nahe wie seinem Sohn. Meine Eltern gehörten zur ersten Generation am neu gegründeten Goethe Institut. Aber logisch war es mein Vater, der bei gleicher Qualifikation Institutsleiter wurde, während meine Mutter drei Kinder bekam und auf Teilzeit ging.

Es wurde erwartet, dass die Frau zu Hause blieb

ber in den 60ern erwartete der Arbeitgeber, dass eine Frau zu Hause blieb, wenn sie Mutter wurde, und das hat sie sich nicht gefallen lassen. Meine Mutter hat, lange bevor es Krippen, Kitas und Schulhorte gab, Wege gefunden, wie sie eine Familie haben und trotzdem qualifiziert arbeiten konnte. Und natürlich hat sie den Haushalt alleine versorgt, inklusive des täglichen warmen Mittagessens für die ganze Familie.

Meine Schwestern und ich sind Studienrätin, Ärztin, Journalistin geworden. Hat sich die naive Erwartung unserer in den 70ern sozialisierten Generation erfüllt, dass Männer und Frauen voll und ganz gleichberechtigt sind, das Gleiche können und die gleichen Aufgaben erfüllen? Bekanntlich nicht.

Ob die Frauenquote etwas bringt? Ich bezweifele es

Frauen sind bei gleicher Arbeit immer noch schlechter bezahlt, sie besetzen kaum Führungspositionen, sie gehen als Mütter typischerweise auf Teilzeit, während die Väter auf einer vollen Stelle weiterarbeiten. Die Bänke auf Kinderspielplätzen sind nach wie vor bevölkert von vielen Müttern.

Was wünsche ich mir also für meine Tochter, für meinen Sohn? Vor allem anderen, dass sie sich nicht in Machtkämpfe verstricken. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es nur gemeinsam schaffen, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass es am Ende keine Gewinner und Verlierer mehr gibt. Dabei sollte die Erkenntnis helfen, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. Wo Frauen ein gutes Leben führen können, gewinnen alle.

Komm bügeln! Früh geübte Rollenspiele in den 1920ern.
Komm bügeln! Früh geübte Rollenspiele in den 1920ern.

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Ich glaube kaum, dass die Frauenquote uns viel bringen wird. Und wünsche ich meiner Tochter etwa, dass sie es in einen Aufsichtsrat zu den Bestimmern schafft, dafür 70 Stunden in der Woche arbeitet und ihre Kinder nur im Urlaub sieht, falls sie unter diesen Umständen überhaupt eine Familie gründet? Ganz sicher nicht – genauso wenig wie meinem Sohn. Schon heute sieht die junge „Generation Y“ nicht mehr ein, warum Arbeit ihr ganzes Leben bestimmen sollte. Familie, Gemeinschaft, ehrenamtliches Engagement – es gibt vieles andere, das uns und unsere Gesellschaft weiterbringt.

Raus aus den Rollen, rein ins Leben!

Also her mit den Modellen, in denen Verantwortung und Arbeitszeit auf mehrere Schultern verteilt werden. Her mit den jungen Frauen und Männern, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, weil sie gelernt haben, wie ein Team wirklich funktioniert, und wissen, dass man Fehler machen, sich korrigieren und weitergehen darf.

Es ist noch längst nicht alles so, wie es sein könnte, aber wir sind in kurzer Zeit weit gekommen. Vor 100 Jahren durften Frauen in Deutschland noch nicht wählen. Unsere Töchter wachsen so frei auf wie keine Mädchengeneration vor ihnen. Ich wünsche mir zu diesem und allen folgenden Muttertagen, dass sie zusammen mit ihren Brüdern von unseren Schultern aus losfliegen und unsere angestaubten Geschlechterrollen hinter sich lassen.

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