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Muslime aus aller Welt besuchten am vergangenen Donnerstag das deutsche Konzentrationslager Auschwitz.

© Bartosz Siedlik/AFP

Muslimischer Antisemitismus: Was Wolffsohn, Amthor, Merz und Co. unterschlagen

Haben Muslime mit den Nazis paktiert? Sind Muslime mehrheitlich Antisemiten? Wer solche Thesen verbreitet, sollte die Fakten kennen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Rund um den 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Soldaten wurden auch einige Stimmen laut, die irritierten. Der Historiker Michael Wolffsohn forderte eine neue Gedenkkultur in Deutschland, die auch Muslime mit einbeziehe. Wörtlich sagte er: „Als ob etwa die muslimische Welt beim Judenmorden und im Zweiten Weltkrieg nicht mit den Hitler-Banden zusammengearbeitet hätte.“

Was ist der sachliche Gehalt der Vorwürfe gegen Muslime?

Wenig später äußerte der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor: „Klar ist auch, das darf man nicht vergessen, dass Antisemitismus natürlich vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen besonders stark vertreten ist.“ Vor dem Hintergrund der Migration der vergangenen Jahre seien „an dieser Stelle natürlich viele Sorgen für die jüdische Bevölkerung da“.

Es folgte Friedrich Merz, ebenfalls CDU: „75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz erleben wir erneut Antisemitismus – überwiegend von rechts, aber auch durch die Einwanderung von 2015/16. Viele bringen Judenhass mit, der in ihren Heimatländern gepredigt wird. Auch dafür darf es keine Toleranz geben.“ Zum Schluss meldete sich noch Thilo Sarrazin zu Wort. „Fundamental orientierte Muslime“ kontrollierten die SPD. Aber das fiel eher in die Kategorie „Skurriles“.

Wolffsohn, Amthor und Merz wurde vorgeworfen, den Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu instrumentalisieren, um gegen muslimische Migranten zu wettern. Das sei taktlos, hieß es, eine Ablenkung von deutscher Schuld und eine Anbiederung an die Rhetorik der AfD. Das gelte unabhängig vom sachlichen Gehalt ihrer Äußerungen.

Wie aber steht es um diesen sachlichen Gehalt? Da ist zunächst die Historie: Waren Muslime die willigen Vollstrecker der Nazis? Legendär ist das Treffen am 30. November 1941 in Berlin zwischen dem Mufti von Jerusalem, Amin al Husseini, und Adolf Hitler.

Al Husseini wollte, dass das Deutsche Reich den „arabischen Kampf für Unabhängigkeit und Freiheit“ ebenso unterstützt wie „die Zerstörung einer nationalen jüdischen Heimstatt“ in Palästina. Außerdem half er bei der Rekrutierung bosnischer Muslime für die Waffen-SS.

Keine ideologische Nähe von Islam und Nationalsozialismus

Diese Rekrutierung rechtfertigte der Reichsführer der SS und Befehlshaber des Ersatzheeres, Heinrich Himmler, 1944 in einer Rede vor Parteifunktionären sehr pragmatisch: „Ich muss sagen, ich habe gegen den Islam gar nichts, denn er erzieht mir in dieser Division seine Menschen und verspricht ihnen den Himmel, wenn sie gekämpft haben und im Kampf gefallen sind. Eine für Soldaten praktische und sympathische Religion.“

Allerdings beruhte die Zusammenarbeit von al Husseini und Hitler in erster Linie auf partiell übereinstimmenden Interessen. Der Mufti hoffte auf deutsche Hilfe gegen die britische Besatzungsmacht und gegen die Errichtung einer jüdischen Heimstatt.

Hitler sah in den Muslimen ideale Verbündete

Hitler sah in den nach Unabhängigkeit strebenden Muslimen ideale Verbündete gegen die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien. Daraus eine ideologische Nähe von Islam und Nationalsozialismus abzuleiten, hält den Fakten nicht stand.

Sehr viel mehr Muslime kämpften an der Seite der Alliierten gegen Hitler als an der Seite der Achsenmächte für ihn. Darauf weist der Historiker David Motadel, der an der London School of Economics lehrt, in seinem 2018 erschienenen Standardwerk „Für Prophet und Führer: Die islamische Welt und das Dritte Reich“ hin: „Allein aus Nordafrika“, schreibt Motadel, „kämpfte eine Viertel Million Muslime in der Freien Französischen Armee und half dabei, Europa zu befreien.“

Die meisten Muslime in der Hitlers Armee ohne religiöse Beweggründe

Dasselbe gilt für Hunderttausende Muslime im britischen Militär, viele davon aus Indien, sowie für Zigtausende in der Roten Armee, überwiegend Usbeken, Kasachen, Tadschiken, Kirgisen und Turkmenen. Mehr als 20 Millionen Muslime lebten damals in der Sowjetunion.

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Während der Islam für das NS-Regime vor allem „Mittel zum Zweck“ gewesen sei, bilanziert Motadel, hätten die meisten Muslime, die in der deutschen Armee kämpften, keine religiösen Beweggründe gehabt. „Viele wurden in Kriegsgefangenenlagern rekrutiert. Denen ging es vor allem darum, dem Hunger und den Seuchen des Camps zu entkommen.“

Muslime halfen während des Zweiten Weltkrieges Juden

Auch Mehnaz M. Afridi, die Direktorin des Manhattan College „Holocaust, Genocide und Interfaith Education Center“, kommt in ihrem Essay „The Role of Muslims and the Holocaust“ zu dem Ergebnis: „Muslime haben nicht die nationalsozialistischen Massenmorde, Pogrome, Konzentrationslager, Gaskammern und die ,Endlösung der Judenfrage‘ zu verantworten.“

In Israel wird eine Liste von Menschen geführt, die während des Zweiten Weltkrieges ihr Leben riskierten, um Juden vor der Ermordung zu retten. Zu den „Gerechten unter den Völkern“ zählen 70 Muslime.

In Albanien nach dem Krieg mehr Juden als vorher

In Albanien etwa, das mehrheitlich muslimisch ist, lebten nach dem Krieg mehr Juden als vor dem Krieg. Viele Verfolgte aus einem halben Dutzend europäischer Länder hatten dort Zuflucht gefunden.

Wie steht es mit der zweiten Behauptung, der zufolge Einwanderer aus muslimisch geprägten Kulturkreisen maßgeblich für einen Anstieg des Antisemitismus in Deutschland verantwortlich seien? Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium verzeichneten für das Jahr 2018 rund 1800 antisemitische Straftaten, beinahe 90 Prozent davon sind dem „Phänomenbereich rechts“ zuzuordnen, wurden also von Rechtsradikalen verübt. 102 Taten fielen unter „ausländische Ideologie“, 52 wurden als „religiös motiviert“ registriert.

Ist „muslimische Person“ eine Chiffre für „arabisch“?

Kritisiert wird allerdings, dass antisemitische Verbrechen schon dann unter die Kategorie „rechts“ fallen, wenn keine weiteren Spezifika erkennbar und keine Tatverdächtigen bekannt seien. In der 2017 von der Universität Bielefeld veröffentlichen Studie „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland“ gaben 81 Prozent der Opfer von antisemitischen Gewaltdelikten an, von „muslimischen Personen“ angegriffen worden zu sein.

Doch wie aussagekräftig ist eine solche Gefühlskategorie? Kaum ein Opfer wird den Angreifer nach dessen Religionszugehörigkeit gefragt haben. „Muslimische Person“ scheint eher eine Chiffre für „arabisch“ oder „nordafrikanisch“ zu sein. Rein äußerlich sind irakische Jesiden, ägyptische Kopten und syrische Christen von nahöstlichen Muslimen kaum zu unterscheiden.

Viele Muslime sind vollkommen areligiös

Und ob das Verbrechen in jedem Fall aus der Religion resultierte, ist meist unklar. Der Islam ist eine Vererbungskonfession, viele Muslime sind vollkommen areligiös. Der Begriff „muslimische Person“ suggeriert eine Kausalität zwischen Glauben und Tat, die allenfalls auf Wahrscheinlichkeit, nicht aber auf Evidenz basiert.

Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass Bewohner muslimisch geprägter Länder überdurchschnittlich antisemitisch eingestellt sind. Der jüngsten Erhebung des renommierten „Pew Research Center“ zufolge haben 100 Prozent der muslimischen Jordanier, 99 Prozent der muslimischen Libanesen, 98 Prozent der muslimischen Ägypter und 88 Prozent der muslimischen Marokkaner eine negative Einstellung zu Juden. Hinzu kommt eine starke Affinität zu Verschwörungstheorien. In keinem überwiegend muslimischen Land glaubt eine Mehrheit der Menschen daran, dass die Terroranschläge vom 11. September 2001 von Muslimen verübt wurden.

Auch Intoleranz gegenüber Muslimen steigt

Mitverantwortlich für den Antisemitismus junger muslimischer Migranten ist aber offenbar auch eine zunehmende Islamfeindlichkeit. Das ist das Ergebnis einer im April 2019 von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichen Dokumentation eines Schulprojektes.

In dessen Rahmen rechtfertigten viele Jugendliche muslimischen Glaubens ihre antisemitischen Einstellungen damit, „dass sie durch die zunehmende Islamfeindlichkeit selbst abgewertet und diskriminiert werden“. Die Verfasser der Dokumentation warnen vor diesem „höchst bedenklichen Mechanismus“. Dass die Intoleranz gegenüber Muslimen in fast allen europäischen Ländern zum Teil dramatisch gestiegen ist, belegen ebenfalls diverse Pew-Studien.

Generalsekretär der Islamischen Weltliga besucht Auschwitz

Was tun? Vielleicht das: Beinahe unbeachtet von einer größeren Öffentlichkeit besuchte am vergangenen Donnerstag der Generalsekretär der Islamischen Weltliga mit Sitz in Mekka, Sheikh Mohammad al Issa, mit rund 60 weiteren muslimischen Vertretern aus der ganzen Welt das frühere deutsche Konzentrationslager Auschwitz. Gemeinsam mit dem Geschäftsführer des „American Jewish Committee“ (AJC), David Harris, ging er durch das Lagertor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ und entzündete an der sogenannten Todeswand eine Kerze.

Al Issa, der schon zuvor die Leugnung und Relativierung des Holocaust als Verbrechen und Beleidigung der Opfer verurteilt hatte, sprach von einer „heiligen Pflicht“ und „großen Ehre“. Das AJC, das die Reise organisiert hatte, nannte den Besuch „historisch“. Harris kündigte einen Gegenbesuch seiner Organisation in Saudi-Arabien an. Würden Wolffsohn, Amthor und Merz - statt nur zu klagen - solche symbolischen Gesten würdigen, wäre der Sache, um die es auch ihnen gehen sollte, weitaus besser gedient: den Antisemitismus in all seinen Formen ebenso zu bekämpfen wie Rassismus und Islamfeindschaft.

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