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Laura M. Schwengber (links) und Kathrin Wolke alias Deaf Kat Night.

© Mike Wolff

Musik und Gebärdensprache: Mehr als nur Schallwellen

Die eine will Töne sichtbar machen, die andere Gebärden hörbar. Eine Musikdolmetscherin und eine taube Rapperin wollen Brücken bauen zwischen Hörenden und Nichthörenden.

Einen Quadratmeter Platz. Ein wenig Licht. Eine Flasche Wasser. Mehr braucht Laura M. Schwengber an diesem Freitagabend nicht, um die Gesetze der Physik auszuhebeln. Zusammen mit der Newcomerband „Neufundland“ steht sie auf der Bühne des Mainzer Kulturclubs „Schon Schön“. Sphärisch verhallt das erste Gitarrenriff. Nebelschwaden wabern durch den Raum. In ihnen zeichnen sich die Konturen der jungen Frau ab. Laura M. Schwengber ist komplett in schwarz gekleidet. Einzig die filigranen Regungen ihrer Hände treten hervor, sie scheinen zu schweben, aufzusteigen in Richtung Decke. Die Finger bewegen sich gegenläufig. Leicht und elegant, als würden sie auf einer unsichtbaren Klaviatur spielen.

Die ersten vernuschelten Textzeilen des Sängers verfangen sich im Mikrofon, dann setzt die Band ein – und mit ihr der Körper von Schwengber. Von einem auf den anderen Moment scheint alles an ihr aktiviert. Die Füße stampfen im Takt. Der Oberkörper bäumt sich auf. Wild gestikulierend kreisen die Arme. Für Außenstehende mag es wie ein komplexer Improvisationstanz aussehen, doch was dort auf der Bühne passiert, ist ein kleines Wunder: Laura M. Schwengber kann für Gehörlose Musik sichtbar machen.

Dass Sprache mehr bedeutet als die Tonerzeugung mit dem Mund, erkannte sie bereits als junges Mädchen. Ihr bester Freund verlor auf Grund einer seltenen Erbkrankheit sein Gehör. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, um gemeinsam Videospiele auf dem Game Boy zu spielen, mussten sie lauter sprechen. Bis der Tag kam, an dem sie sich anschrien. „Das war uns dann einfach zu doof. Also waren meine ersten Gebärden die Namen von Pokémons.“

Was aus freundschaftlicher Solidarität begann, entwickelte sich bald zu einer Mission. Schwengber belegte Kurse für die Deutsche Gebärdensprache, studierte in Berlin den Studiengang „Deaf Studies“ und lernte über die Jahre die Kultur der Gehörlosengemeinschaft kennen. Heute ist sie staatlich geprüfte Dolmetscherin für Deutsche Gebärdensprache, übersetzt auf Tagungen, Konferenzen und im Bundestag.

Weit mehr als nur Dolmetschen

In Mainz heften sich die Augen der Zuschauer auf die 28-Jährige mit den blonden, kurzgeschorenen Haaren und den rotgeschminkten Lippen. Die anfängliche, sichtliche Irritation des Publikums ist verflogen. Denn was Laura Schwengber macht, ist weit mehr als nur dolmetschen. Nein, sie verkörpert jede Textzeile, unterstreicht jeden Akkord mit Inbrunst. Die Grenze zwischen persönlicher Hingabe und professioneller Aufgabe ist dabei kaum noch erkennbar.

Eigentlich war es Schwengbers Kindheitstraum, selbst Künstlerin zu werden. Doch eines Tages nahm ihre Gesanglehrerin sie beiseite und sagte mit sanfter Stimme: „Laura, ich glaube das wird nichts.“ Wenn sie das heute erzählt, schwingt Dankbarkeit in ihrer Stimme mit. Denn als Medium, das sie nun verkörpert, ist sie nicht mehr festgelegt. „Ich kann jetzt alle Rollen annehmen, die sich auf der Bühne verkörpern lassen.“

An einem Abend gibt sie die begnadete Violinistin, am nächsten die ekstatische Rampensau, dann wieder die lässige Rapperin. Sie beherrscht die Opulenz der Gitarrenwände, das stampfende Stakkato der Bass Drum und den beseelten Klang des Cello. Einzig, sie muss es fühlen: „Im Bauch und im Herz.“ Aufsaugen wie ein Schwamm und dann nach Sekundenbruchteilen wieder auswringen. Hunderte Male pro Lied. Mitteilen. Transformieren. Schall in Zeichen. Stimme in Geste. Lautstärke in Bewegung.

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„Nimm mich mit, zeig mir den Tag, zeig mir die Nacht. Nimm mich mit, reich mir die Hand, gib mir Sinn und gib mir Krach“, fleht der Sänger von „Neufundland“. Doch allem Pathos zum Trotz hängt das Publikum längst nicht mehr an seinen Lippen. Es sind Laura Schwengbers Hände, die alle mitnehmen. Die Hörenden und die Tauben. Gebärde für Gebärde baut sie an der Brücke zwischen den Welten. Nach den Liedern streckt sie die Arme nach oben, dreht in schnellen Bewegungen ihre Handflächen. Applaus in Gebärdensprache. Dann wischt sie sich die Schweißperlen von der Stirn. Ein Schluck Wasser. Und weiter.

Für den durchschnittlichen Konzertgänger ist die Dolmetscherin Bestandteil der Show. Doch für Menschen wie Kathrin Wolke ist es ein unverzichtbarer Faktor, um überhaupt von einem Konzerterlebnis sprechen zu können. Als einzige in ihrer Familie ist sie seit der Geburt gehörlos. Der Blick in den Veranstaltungskalender war für die heute 38-Jährige stets ein gedrucktes Zeugnis der Ausgrenzung. Kino? Theater? Livemusik? Eine andere Welt. Bis zu jenem Tag, als Laura Schwengber auf der Bühne stand und Wolke „das erste Mal verstand, wovon die Hörenden singen“.

Musik nur, wenn sie laut ist

An einem winterlichen Samstagvormittag sitzt die gebürtige Schwerinerin im Kiez-Treff „Südblock“ am Kottbusser Tor. Zwischen ihren beidseitig tätowierten Armen, die permanent in Aktion sind, erkaltet seit 20 Minuten ein unangerührter Milchkaffee. Resigniert zuckt Wolke mit den Schultern. „Wenn man stocktaub ist und sich mit den Händen unterhält, muss anderes eben stehen bleiben.“ Laura Schwengber übersetzt die Geschichte, die aus Wolkes Gebärden spricht und die vor allem davon berichtet, was es bedeutet in einer Welt von Hörenden taub zu sein. „Ich erinnere mich an Familienfeste, wo alle über etwas lachten, was ich nicht verstand.“ Sie weiß nicht, wenn der Nachrichtensprecher im Radio von einem Terroranschlag berichtet, dass der wütende Fahrradfahrer mehrfach hinter ihr klingelt, oder warum in der U-Bahn plötzlich alle aufstehen. Einmal musste sie Stunden in einem steckengebliebenen Aufzug ausharren, weil sie sich über die Gegensprechanlage nicht verständigen konnte.

„Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt, dann vergisst sie, dass sie taub ist“, sang Herbert Grönemeyer 1983 über das Erleben von Klängen durch ein taubes Mädchen. Kathrin Wolke hat die raue Stimme des Sängers nie gehört, doch sie nickt. „Läuft hier gerade Musik?“, will sie wissen. Sie läuft, aber nicht für Wolke. Denn erst wenn die Boxen vibrieren und alle um sie herum sich die Ohren zuhalten, beginnt für sie das Erleben des Klangs. Die Frau mit dem Kurzhaarschnitt springt auf, zeigt auf ihre Füße. Dort unten an den Sohlen tritt die Musik dann in den Körper ein, steigt auf, breitet sich in ihr aus. Bis sie durch ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht wieder aus dem Körper austritt.

Viele ihrer tauben Freunde besuchen Technopartys, denn die tiefen Frequenzen können sie am besten spüren. Auch Wolke hat das versucht, Euphorie löste es in ihr jedoch nicht aus, „eher einen Brechreiz“. Bässe mag sie zwar auch, aber nur im Hip Hop.

Rapmusik thematisiert seit jeher die Erfahrungen einer marginalisierten Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft. „Warum sollte die Sprache der Ungehörten nicht auch die Sprache der Nichthörenden sein können?“, dachte sich Wolke. Und fasste den Entschluss, die erste gehörlose Rapperin Deutschlands zu werden.

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„Sprechgesang? Auf einem Beat, den du nicht hörst?“, fragen sie taube Menschen immer wieder. Wolke kann zwar nicht hören, aber spüren. Und warum soll sie mit Händen nicht so schnell rappen, wie andere mit der Zunge? „Flow“ nennen Rapper den kunstvollen, rhythmischen Fluss von gereimten Sätzen. Ausgewogene Silbenzahl, möglichst pausenfrei. Reime kennt Wolke ebenso wenig wie Silben. Und doch ist sie eine Wortakrobatin. Nur dass ihr „Flow“ die Eleganz der Gebärdensprache ist.

2014 stand sie das erste Mal als Deaf Kat Night auf der Bühne und zeichnete ihre Zeilen in die stickige Luft des Maschinenhauses der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg. Ihre Gebärden erzählten von Rassismus, dem Tod ihrer Großmutter und dem Verhältnis von Hörenden und Nichthörenden. Denn auch die Tauben haben Vorurteile. „Barrierefreiheit heißt doch nicht nur, das machen zu können, was Hörende machen“, sagt sie, „es muss in beide Richtungen funktionieren.“ Darum lässt Kathrin Wolke ihre Texte bei Auftritten von einer befreundeten Rapperin in Lautsprache übersetzen. Sonst ginge es den Hörenden so wie den Gehörlosen ohne die Übersetzung durch Laura Schwengber. Dann nippt sie das erste Mal am kalten Milchkaffee, hebt noch einmal die Hände in Richtung der Dolmetscherin. „Warum sollen wir in zwei Welten leben, wenn uns die Leidenschaft für die Musik vereint?“

Gebärden, und das ist Schwengber sehr wichtig, sind keine Zeichensprache. Schließlich beschränken sie sich nicht allein auf die Hände. Vielmehr ist es eine Verbindung von Gestik, Mimik und Körperhaltung. Weltweit sind mehr als 100 Gebärdensprachen bekannt, in jedem Land kommen unzählige Dialekte hinzu. Hierzulande sprechen 200 000 Menschen die Deutsche Gebärdensprache, darunter 80 000 Gehörlose. Doch erst 2002 wurde sie in Deutschland offiziell anerkannt. Schwengber ärgert es maßlos, dass viele Menschen noch immer von „Taubstummen“ sprechen. Denn selbstverständlich hätten Gehörlose eine Stimme und sie können zuhören – „man muss ihnen nur die Möglichkeit dazu bieten“.

Musik ist mehr als Text

Was in Mainz so intuitiv aussieht, spielerisch und leicht, hat sich die Berlinerin über Jahre mühevoll angeeignet. Eigentlich sollten die ersten Videoaufnahmen, die sie von sich selbst gemacht hat, nur ein Experiment sein, eine Spielerei an ihrem Institut. Doch auf Umwegen landete eine Kopie davon in den Redaktionsräumen des NDR. Kurz darauf fand Schwengber in ihrem Postfach eine E-Mail der Programmverantwortlichen. Ob sie nicht für den Tag der Gehörlosen einige Musikvideos gebärden könnte?

Ihr erster Gedanke damals: „Unmöglich. Wie soll das gehen? Das funktioniert nicht.“ Denn nur die Songtexte zu übersetzen, das war ihr zu wenig, „das wäre dann ungefähr so mitreißend wie die Gebärdensprachendolmetscher aus der Tagesschau.“ Und Musik, sagt Laura Schwengber, sei doch so viel mehr als Text. Es ist die Intensität, der Rhythmus, der Inhalt und die Klangfarbe.

Also übte sie zunächst vor dem Spiegel. Dann wagte sie eine erste Darbietung vor gehörlosen Freunden und fragte hinterher: „Macht euch das Spaß, was ich da zur Musik mache?“ Das machte es offensichtlich. Ihre ersten Gehversuche für den NDR haben auf YouTube mittlerweile hunderttausende Benutzer gesehen.

Reine Instrumentalkonzerte sind die größte Herausforderung

Darunter auch die Musiker der Band „Keimzeit“, die begeistert vor dem Computer saßen und den Beschluss fassten: Diese Frau gehört auf die Bühne. Die Idee stieß beim Konzertveranstalter zunächst auf wenig Gegenliebe, erinnert sich Schwengber. Ob das für das Publikum nicht befremdlich aussehen würde? Überhaupt: Der Club sei nicht darauf vorbereitet, dass Taube auf ein Konzert kommen. Und das Personal nicht für den Umgang mit Gehörlosen geschult. Allen Bedenken zum Trotz stand Laura M. Schwengber an diesem Abend auf der Bühne, der Veranstalter tauchte nach dem Konzert Backstage auf und rief: „Die bringt ihr wieder mit!“ Das taten sie zwar, aber auf die Exklusivität ihrer Bühnenpräsenz musste die Band bald schon verzichten.

Längst hat Schwengber mehr Anfragen als Zeit. Ob vor einigen hundert Besuchern bei Bachs „Weihnachtsoratorium“, vor Tausenden mit Bands wie „AnnenMayKantereit“ oder „Kraftklub“ oder gar vor einem Millionenpublikum im Fernsehen zum Eurovision Songcontest – die Dolmetscherin hat keine musikalischen Berührungsängste. Mit einer Ausnahme: „Bei sexistischen, rassistischen oder behindertenfeindlichen Texten behalte ich meine Hände in den Hosentaschen.“

Die größte Herausforderung sind jedoch immer noch die reinen Instrumentalkonzerte. „Ich kann niemandem ohne Gehör erklären, wie sich die Oboe von einem Fagott unterscheidet.“ Also versucht Schwengber sich an einer Präsentation des Gesamterlebnisses, arbeitet mit Bildern. Bei Smetanas „Moldau“ falle ihr das noch leicht, die romantischen Motive der Komposition aufzugreifen. Die Quelle, die Bauernhochzeit, die tosenden Stromschnellen. Doch bei den meisten klassischen Stücken müsse sie sich über die Intention des Komponisten erkundigen. „Wenn es gar nicht geht, gebe ich mich einfach der Musik hin und vermittele meine eigenen Empfindungen.“

Das Recht auf Kultur für alle

Aber auch an einem Abend wie im „Schon Schön“, mit einer Band, die zugängliche, deutsche Texte präsentiert, ist es nicht möglich, jedes einzelne Wort exakt zu übersetzen. Darum gehe es aber dem hörenden Konzertbesucher auch nicht, gibt Schwengber zu bedenken. „Das Erlebnis Musik ist so viel mehr als bloße Schallwellen, einzelne Noten oder ein Songtext.“ Sie hat sich kaum vorbereitet auf den Auftritt. Den „Zauber des ersten Durchlaufs“ nennt sie das, denn „Gefühl lässt sich halt nicht planen“. Spüren. Nicht nachdenken. Weitergeben. Die Eindringlichkeit. Die Energie. Die Emotion. So kann sie auch die vernuschelten Zwischenrufe des Sängers oder kleinere Pannen auf der Bühne einfangen. Manchmal, wenn sie sich Videos von ihren Auftritten anschaut, ist sie selbst erstaunt: „Als ob meine Hände mein Hirn überholen.“

Das Konzert endet. Die Band hat die Bühne längst verlassen, da beschreibt Laura Schwengber noch in Gebärden die Intensität des Applauses, das Pfeifen, Johlen und die „Zugaben“-Rufe. Dann steigt sie von der Bühne herab, lässt Fotos mit sich machen, gibt Autogramme. Oft stehen in den ersten Reihen die gleichen Gesichter, manche reisen ihr gar hinterher.

Wie eine Olympionikin nach einem Marathon sitzt sie da auf dem Bühnenrand. Die Anstrengung spricht noch aus ihrem verschwitzten Gesicht. Jetzt, kurz nach dem Auftritt, sei der Adrenalinpegel noch hoch, sagt sie, „aber am nächsten Morgen sollte mich niemand ansprechen“. Vor allem in der Festivalsaison, wenn sie bis zu vier Bands hintereinander dolmetscht. Der regelmäßige Besuch im Fitnessstudio ist deshalb fester Bestandteil ihres Wochenplans. Wofür all diese Strapazen? „Weil ich an das Recht auf Kultur für alle glaube. Gehörlosigkeit und Musik – das ist kein Widerspruch.“

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