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Eher traditionell: Muslimbrüder demonstrieren vor der ägyptischen Botschaft in Beirut mit einem Konterfei ihres Gründers Hassan el Banna gegen Ägyptens Präsidenten Hosni Mubarak.

© Reuters

Mubaraks Opposition: Wer sind die Muslimbrüder?

Ihr Ziel ist die Rückkehr zum reinen Islam. Die Hamas hat hier ihre Wurzeln. Noch halten sie sich in Ägypten zurück. Aber bald könnten sie sehr wichtig werden.

Die Muslimbruderschaft gehört zu den einflussreichsten islamisch-fundamentalistischen Bewegungen im Nahen Osten. Ägypten ist ihr wichtigster Wirkungsort, wenngleich sie dort offiziell verboten sind. Laut Selbstdarstellung der Bruderschaft gibt es Zweige in über 70 Ländern der Welt. Die wichtigsten Ableger sind in Saudi-Arabien, Tunesien und Libanon. Der niedersächsische Verfassungsschutz berichtete, dass im Jahr 2005 auch in Deutschland rund 1800 Mitglieder der Muslimbruderschaft lebten.

WIE ENTSTAND DIE MUSLIMBRUDERSCHAFT?

Die Organisation der Ichwan al Muslimun war bei ihrer Gründung 1928 nur eine von vielen Vereinen, die im Kampf gegen die westliche Vorherrschaft in der islamischen Welt eine Rückbesinnung auf die eigenen Stärken und religiösen Tugenden forderten. Damit sollten die eigenen Gesellschaften wieder gestärkt werden. Geprägt waren die Muslimbrüder durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die Abschaffung des Kalifats sowie die britische Kolonialherrschaft über Ägypten. Sie verband das islamische Reformdenken des 19. Jahrhunderts mit Nationalismus, starkem Staat, Industrialisierung und Wohlfahrtsgedanken.

Durch Armenspeisung, Schulangebote, kostenlose medizinische Dienste und den Aufbau von Nachbarschaftsnetzen avancierte die Organisation schnell zu einer modernen Massenbewegung mit Zehntausenden Anhängern in Ägypten. Die Bewegung, streng hierarchisch organisiert, hatte eigene Moscheen, Firmen, Fabriken, Krankenhäuser und Schulen und besetzte wichtige Posten in Armee und Gewerkschaften. Sie legte viel Wert auf Bildung und Ausbildung im Sinne ihrer islamischen Gesellschaftsvision. So gelang es ihr, großen Einfluss im ägyptischen Staat zu gewinnen.

Im Laufe der Jahre politisierte sich die Muslimbruderschaft und setzte sich für das Ziel der Rückkehr zum ursprünglichen Islam und der Errichtung einer islamischen Ordnung ein. Al-Banna wandte sich 1936 mit diesem Ziel in dem Traktat „Aufbruch zum Licht“ an den ägyptischen König und andere arabische Staatsoberhäupter. Die Anhänger kamen hauptsächlich aus der kleinbürgerlichen Mittelschicht, es waren Verwaltungsbeamte, Ingenieure, Lehrer.

WO SIND DIE MUSLIMBRÜDER AKTIV?

Schon Ende der 30er Jahre hatten die Muslimbrüder Ableger in den meisten arabischen Ländern, die auch unter ihrer Rückständigkeit gegenüber einem wirtschaftlich und wissenschaftlich überlegenen Westen litten. In dem von Israel besetzten Gazastreifen ist aus der Bewegung später die Hamas entstanden. Das pietistisch anmutende Ideal einer muslimischen Erziehung schien nicht mehr ausreichend, nachdem das palästinensische Volk mit dem Ausbruch der ersten Intifada Ende 1987 gegen die Besatzung aufbegehrt hatte. Die Bewegung musste ihre Position neu überdenken, um nicht an Popularität zu verlieren. Die Hamas wurde gegründet, die sich neben der muslimischen Erziehung den Kampf gegen die israelische Besatzung auf die Fahne geschrieben hat.

Auch in zahlreichen anderen Ländern haben sich politische Parteien auf der ideologischen Grundlage der Bewegung der Muslimbrüder gegründet: so die islamische Aktionsfront in Jordanien oder die En-Nahda-Partei (Wiedererweckung) in Tunesien. Nach Angaben der Muslimbruderschaft hat die Organisation Ableger oder von ihr inspirierte Parteien in 70 Ländern.

ERLAUBT IHRE IDEOLOGIE GEWALT?

Das Hauptanliegen der Muslimbruderschaft ist und war die Stärkung islamischer Erziehung und friedlicher Werte. In den 40er Jahren hatte die soziale Bewegung jedoch – vergleichbar mit jüdischen Gruppen in Palästina – auch einen militärischen Apparat, der Anschläge auf britische Einrichtungen verübte und später vermutlich auch auf ägyptische Politiker. Der Chefideologe der Bewegung in den 50er und 60er Jahren, Sayyed Qutb, entwickelte unter dem Eindruck harscher Repression die Theorie, dass Muslime notfalls mit Gewalt die Herrschaft angeblich islamischer Potentaten beenden dürfen und sogar müssen, wenn diese in Wahrheit vom Islam abgefallen sind. Damit lebten sie wieder in dem Zustand, der vor der Religionsgründung des Islam herrschte, dem Zeitalter der „Jahiliyya“ oder Unwissenheit. Diese militante Ideologie wurde von radikalen Gruppen in Ägypten und in der arabischen Welt aufgegriffen und diente als Rechtfertigung für Terroranschläge. Dazu gehören etwa die ägyptischen Gruppen „Islamischer Dschihad“ und „Takfir wa-Higra“, welche zahlreiche Anschläge verübten. Einer der Mitbegründer des Islamischen Dschihad, Ayman al Zawahiri, ist heute Führungsmitglied der Terrororganisation Al Qaida. Die ägyptischen Muslimbrüder haben aber spätestens in den 70er Jahren dieser Ideologie und Militanz abgeschworen – und zwar glaubwürdig. Seither kämpfen die Muslimbrüder für Pluralismus und haben an Wahlen teilgenommen: Die Vereinigung ist bis heute in Ägypten verboten, wird aber toleriert.

WELCHEN RÜCKHALT HABEN SIE IN DER BEVÖLKERUNG?

Die Bewegung ist populär, weil sie mit ihren sozialen Einrichtungen dort hilft, wo der ägyptische Staat seine Bewohner alleine lässt. Die Muslimbrüder sind extrem aktiv, sie dominieren zahlreiche Berufsvereinigungen und Studentenvertretungen. Ihre Mitglieder in Ägypten werden auf etwa 100 000 geschätzt. Seit 1984 nehmen sie mit sogenannten „unabhängigen“ Kandidaten an Parlamentswahlen teil. Den größten Erfolg errangen sie 2005, als sie 88 der 455 Mandate erringen konnten. Immer wieder versuchten sie, kritische Aussprachen im Parlament über die Politik des Regimes und der Regierungspartei von Hosni Mubarak herbeizuführen. Sie haben sich aber auch in Fragen der Kommunal- und Wirtschaftspolitik eingearbeitet. Das hat den Brüdern in ihren Wahlkreisen zu weiterer Popularität verholfen. Es ist allerdings schwer vorherzusagen, wie viele Stimmen die Muslimbrüder bei freien Wahlen erhalten könnten. Bisher durften sich in Ägypten andere, nicht religiös ausgerichtete politische Gruppen, nicht organisieren.

WIE VERHALTEN SIE SICH WÄHREND DER AKTUELLEN UNRUHEN?

Die ersten Aufrufe der Facebook-Aktivisten zum „Tag de Zorns“ begleitete die Muslimbruderschaft mit leisem Applaus, schloss sich ihnen aber nicht an. Erst als sich der Aufstand auszubreiten begann, sprangen die Islamisten mit auf den fahrenden Zug und beorderten ihre Mitglieder auf die Straße. Unter den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz fallen die Männer auf durch ihre typischen Bärte und die Frauen mit ihren Gesichtsschleiern. Die Zahl der Demonstranten, die immer wieder in Rufe „Allah ist groß“ ausbrechen, ist jedoch nur eine Minderheit. Politisch zahlt sich die bisherige taktische Zurückhaltung allerdings aus. Alle Seiten umwerben mittlerweile die Muslimbruderschaft. Vizepräsident Omar Suleiman rief sie auf, sich an einem nationalen Dialog zu beteiligen. „Sagt dem Mursched, er soll sich mit uns zusammensetzen“, rief Verteidigungsminister Mohammed Hussein Tantawi der Menge zu, als er sich am Freitag als erstes Mitglied der Regierung auf dem Tahrir-Platz sehen ließ. Gemeint ist Mohammed Badie, der Chef der Islamistenorganisation. Dieser antwortete prompt über den in Ägypten inzwischen verbotenen Fernsehsender Al Dschasira. Man werde an dem nationalen Dialog teilnehmen und sich an einer Regierung der nationalen Einheit beteiligen, versprach er, aber erst, wenn Mubarak nicht mehr im Amt sei, den er einen „korrupten und ungerechten Tyrannen“ nannte.

KOMMEN SIE NACH MUBARAK AN DIE MACHT UND HÄTTE DAS EINE ISLAMISIERUNG ZUR FOLGE?

In dem rund 50-köpfigen Führungskomitee der „Koalition für Wandel“ sind die Muslimbrüder mit vier Abgesandten vertreten. Intern hat ihr Generalsekretariat die Losung ausgegeben, während der Phase des Machtübergangs nicht offiziell über die Errichtung eines islamischen Staates am Nil zu reden, um die Menschen im Inland und die Regierungen im Ausland nicht zu verunsichern. Kritiker werfen der Muslimbruderschaft vor, ihre wahren Ziele zu verheimlichen – einen islamistischen Staat, Zwangsschleier für alle Frauen und einen Bruch mit Israel. Es gibt jedoch keinen zuverlässigen Einblick in die inneren politischen Beratungen der Organisation. Sie sind geheim, auch gibt es praktisch keine soliden wissenschaftlichen Studien über die inneren Strömungen. Ideologisch jedoch scheint die ägyptische Muslimbruderschaft tief gespalten in einen moderaten und radikalen Flügel. Die Spannungen entluden sich vor einem Jahr mit dem überraschenden Rücktritt des langjährigen Murscheds Mohamed Akef, dem ersten Rücktritt an der Spitze in der 83-jährigen Geschichte der Organisation. „Wir wollen nicht die Macht monopolisieren“, versicherte Sprecher Essam el-Erian, der der Führungsriege der Islamisten angehört. „Wir wollen ein Klima von fairem Wettbewerb, was uns endlich erlaubt, bei Wahlen ohne staatliche Repression um die politische Macht zu kämpfen.“ Klargestellt haben die Muslimbrüder bereits, dass sie keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten für die Mubarak-Nachfolge aufstellen wollen. Trotzdem werden sie in einem neuen, demokratischen Ägypten mit Sicherheit zu den prägenden Kräften gehören.

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