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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Mon BERLIN: Wo waren Sie, als ...?

Der 3. Oktober löst bei den meisten nicht viel aus. Er ist kein Proust’sches Madeleine. Andere Jahrestage dagegen wecken sofort Erinnerungen

Vor 24 Jahren vereinigten sich die beiden Deutschlands. Vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer. Zwei im Abstand von wenigen Wochen gefeierte Jubiläen, die sich in ihrer Aussagekraft stark unterscheiden. Ersteres ist eine vom Kalender bestimmte dröge Formalität. Das zweite lässt bei jedem von uns eine Quelle von Gefühlen und Erinnerungen sprudeln.

Der 9. November gehört zu den seltenen Ereignissen, bei denen man den Atem anhält. Wie bei Kennedys Tod, den ersten Schritten auf dem Mond oder dem 11. September – jeder Bewohner dieses Planeten erinnert sich genau, was er gerade tat, als die Mauer sozusagen über ihm einstürzte. Eine Radionachricht, Passanten, die andere ansprechen, aufgeregte Stimmung auf der Straße, nach dem Kino … und dieser Moment hat sich in unserem Gedächtnis festgesetzt. Niemals werden wir vergessen, womit wir gerade beschäftigt waren, wie bedeutungslos es auch gewesen sein mag.

Die Deutschen lassen sich nicht lange bitten, wenn sie erzählen sollen, wie sie den 9. November erlebt haben. Banalste Tätigkeiten: Ich habe gerade gebügelt, mir die Zähne geputzt, ein Bier getrunken. Für immer ist der Duft der frischen Wäsche, der Geschmack der Zahnpasta oder des Biers im Mund mit diesem Geschehen verbunden, so wie wir es vom Assoziationsprinzip der Proust’schen Madeleine kennen. Unmengen Berliner sind in die Nacht hinaus- geeilt, zum Brandenburger Tor. Es gab auch die Unglücksraben, die alles verpennt haben, weil sie geschlafen haben, weil sie am Ende der Welt saßen, ohne Fernsehen, ohne Telefon – Handy und Internet gab es noch nicht. Für sie hat der Fall der Mauer keinen besonderen Geschmack. Eine weiße Seite ohne Aroma.

Am 11. September wartete ich in Orly auf meinen Koffer

Ich erinnere mich daran, wie Margaret Thatcher ihren Rücktritt ankündigte: Ich saß im Auto, hörte Radio und wäre fast auf den Fußweg gerumpelt. Dabei hatte man die Eiserne Lady für unbesiegbar gehalten! Und der Tod des Sängers Claude Nougaro: ebenfalls im Auto, ebenfalls das Radio, ich musste an den Rand fahren, um eine Träne zu verdrücken. Der Tod von General De Gaulle (na so was, am 9. November 1970!) ruft in meiner Erinnerung einen Geruch nach Tinte, Löschblatt und Schweiß hervor: Alle Schüler in Frankreich waren mit einem Diktat aus den „Memoiren“ des Generals beglückt worden.

Und am 11. September 2001 wartete ich in Orly auf meinen Koffer, der nicht ankam. Von einer Sekunde auf die andere hatte der Flughafen sich in einen wimmelnden Bienenstock verwandelt. In Trauben hingen die Passagiere vor den Fernsehschirmen. Und nach und nach ein Aufschrei des kollektiven Entsetzens.

Der 3. Oktober, der gestern gefeiert wurde, ist, um es milde auszudrücken, nicht in diese magische Aura gehüllt. In der Schachtel liegen Erinnerungen, die allen gemeinsam sind: Willy Brandt und Helmut Kohl auf den Stufen des Reichstags. Über ihnen das gigantische Feuerwerk. Das ist alles. Ein nach den kalendarischen Gegebenheiten herausgesuchtes Datum. Nicht im Sommer, weil da alle im Urlaub sind. Aber auch nicht im Winter, weil es da zu kalt zum Feiern ist. Ein Notbehelf für den mit einem schrecklichen Kapitel der deutschen Geschichte so tragisch belasteten 9. November. Es wäre unanständig, an diesem Tag die Sektkorken knallen zu lassen. Der 3. Oktober ist ein fader Feiertag, an dem es im Allgemeinen regnet (gestern war ein Wunder) und aus dem die Langeweile der müßigen Sonntage sickert. Weit weg vom Brandenburger Tor mit seiner weltweiten Symbolkraft werden die Feierlichkeiten in einer Provinzhauptstadt abgewickelt, vor Denkmälern, die Ausländern nichts sagen.

Und fragen Sie mal einen Franzosen oder Amerikaner, wofür der 3. Oktober steht. Er wird Sie mit runden Augen anstarren. Und ganz außerstande sein, irgendeine Verbindungslinie zwischen seinem Leben und diesem historischen Tag zu ziehen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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