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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Mon Berlin: Salz des Lebens

Kleine Glückmoment: Einige Vorschläge, wie man sich kurz aus dem Berliner Alltag herausreißen kann.

Ein sehr persönliches Buch fiel mir da in die Hände, als ich bei einem Spaziergang in Paris eine Buchhandlung nahe der Place de la Bastille betrat. In einer langen Liste führt die französische Anthropologin Françoise Héritier kleine Freuden, Glücksmomente, winzige Vergnügen auf, die aneinandergereiht dem Leben Würze verleihen. „Das Salz des Lebens“ (in der deutschen Ausgabe: "Das ist das Leben") heißt der schmale Band, der jetzt auf meinem Schreibtisch liegt und dessen Faden ich ab und zu aufnehme. Barfuß gehen, bei Regen über den nächtlichen Asphalt in Niamey spazieren, Schränke ausmisten, ein Feuerwerk sehen, im Theater zuschauen, wie das Licht erlischt, das Gebrabbel verstummt, der Vorhang sich hebt, den Gang der Passanten beobachten und wild drauflos psychologisieren, merkwürdige Wörter im Mund herumdrehen, die Hände in die Tasche stecken, sich den Kopf massieren lassen, auf einer Caféterrasse sitzen und warten … Eine lange Aufzählung dessen, was Françoise Héritier die „reizvollen Meilensteine unseres Lebens“ nennt.

Tal der Tränen statt Garten der Lüste

In den vergangenen Tagen habe ich mich gefragt, wie wohl all die Messerspitzen Salz aussehen mögen, die unserem Berliner Alltag die Fadheit nehmen. Na ja … Ich gebe zu, dass genussvolle Ausrufezeichen ein wenig deplatziert wirken mögen, in dieser Stadt, die für ihre hartnäckig gepflegte schlechte Laune ebenso bekannt ist wie für ihr Talent, sich über alles und nichts zu beklagen. Wenn man dem echten Berliner glauben darf, ist das Leben eher eine Wanderung durch das Tal der Tränen als ein Verweilen im Garten der Lüste. Umso mehr, als die schlechten Nachrichten seit Jahresbeginn auf uns herniederprasseln wie ein Monsunregen: die Ukraine am Rand des Krieges, Griechenland am Rand der Pleite, der quälende Euro, die allgegenwärtige islamistische Drohung, die Grippeepidemie, die Rückkehr der Masern …
Sei’s drum. Ich habe einen Notizblock und einen Stift in die Tasche gesteckt und bin losgezogen, um nacheinander die Salzkristalle aufzuheben, die vor mir aus dem Boden sprudeln würden. Hier ein paar davon, ganz ungeordnet: Stehend einen Espresso ristretto trinken, Samstagmorgen auf dem Markt, den Einkaufskorb zwischen den Füßen.
Tief durchatmen und sich freuen: Bald wird die Saison der Picknicks und des Badens im See wieder eröffnet. Bald ergrünt das Berliner Hinterland.
Den sehr schönen Film „Timbuktu“ an einem grauen Sonntag um drei Uhr nachmittags im Sputnik anschauen, einem Juwel von Kino, das sich am Ende einer Reihe Hinterhöfe ganz oben unter den Dächern von Kreuzberg versteckt.
Zu siebt in dem dunklen Saal. Eine Schwäbin mit Karottenhaaren kreischt in einem haarsträubenden Dialekt: „Oh Jesses! Nein!“, als eine Kuh mit einem Speer getötet wird. Sechs andere Zuschauer, die genervt „Pscht!“ machen. Auf dem Heimweg bei Mr. Minsch Kuchen holen und sich wie das Dutzend Wartende in der Schlange freuen, dass Berlin endlich, endlich die Konditorenkunst entdeckt hat!

Auf dem Trottoir den stets makellos gekleideten alten Herrn sehen, der bei der Begegnung mit einem Nachbarn den Hut zieht. Angesichts dieser altmodischen und so eleganten Geste dahinschmelzen. Ein Gesicht wie ein florentinischer Fürst. Seine gebogene Nase. Seine melancholischen Augen. Und sich seine Geschichte vorstellen. Im warmen Bett aus der Ferne das Murmeln der Stadt hören, wenn man nachts nicht schlafen kann. Keine Hauptstadt der Welt ist so friedlich wie Berlin um drei Uhr morgens. Nach und nach nimmt der Lärm zu. Man hört Hupen, Bremsen, Glockengeläut, die Müllabfuhr, ein gedämpftes Gespräch. Der Tag bricht an. Seinen Wortschatz anreichern, indem man die Schimpfwörter auswendig lernt, die ein Radfahrer über einen leider auf seiner Bahn befindlichen Lieferanten auskippt. Nein, das ist kein Salz, das ist Salzsäure! Jetzt sind Sie mit Ihrer Liste an der Reihe. Eine weise Übung.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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