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Die Berliner Stadtautobahn ist eine gefürchtete Staustrecke.

© picture alliance / Soeren Stache

Mobilitätsexperte über den Stau: „Die unglücklichste Zeit, die man im Leben hat“

Warum Menschen sich wider besseres Wissen für das Auto entscheiden. Ein Gespräch mit dem Mobilitätsexperten Florian Kutzner.

Herr Kutzner, nirgendwo im Land stehen Menschen solange im Stau wie in Berlin. Warum nehmen sie das auf sich, weichen nicht auf U- oder S-Bahn aus?

Mobilitätsverhalten ist sehr gewohnheitsgeprägt. Wenn es zu langsam steigenden Verschlechterungen der Situation kommt– mehr Stau, mehr Zeitverlust, steigende Kosten –, gewöhnen sie sich daran. Wie ein Frosch, der in einem sich langsam erhitzenden Glas sitzt und gekocht wird. Nur einschneidende Ereignisse können das Verhalten ändern.

Was denn zum Beispiel?

Wenn die Deutsche Bahn streikt, sind Pendler genötigt, auf das Auto auszuweichen. Studien zeigen, dass etwa zehn Prozent dann bei dieser alternativen Fortbewegungsmethode bleiben. Erzwungene Verhaltensänderungen ändern bei manchen also auch die Routine.

Das Auto ist aber auch ein Statussymbol.

Es geht um die Idee, was ich mir in meinem Leben leisten können möchte. Und hat viel mit Bequemlichkeit zu tun. Mit dem Bus oder der Bahn zu fahren, erfordert ein bisschen mehr Planung. Ich muss Abfahrtszeiten und Verspätungen nachschauen. Dieser kleine Unterschied hält manche Menschen beim Auto.

Sie meinen, es ist immer noch bequemer, auf überfüllten Straßen unterwegs zu sein?

Die Entscheidung, Auto zu fahren, treffen die meisten nicht mehr jeden Tag. Es ist also oft keine aktive Entscheidung für das Auto. Aber selbst wenn, ist die fehlende Bequemlichkeit, die auf mich zukommt, wenn ich im Stau stehe, im Moment des Aufbruchs weit weg. Wenn ich erst einmal unterwegs bin, habe ich mich festgelegt und kann nicht mehr zurück.

Autofahrer machen sich von ihrer einmal getroffenen Entscheidung abhängig?

Genau. Menschen investieren erstaunlich viel ihres verfügbaren Einkommens in ihr Auto. Das erzeugt eine Art Selbstverpflichtung, es auch zu nutzen. Wenn ich 80.000 Euro für ein Auto ausgegeben habe und jedes Jahr Abschreibungen und Reparaturen einrechne, fällt der Wechsel zum öffentlichen Nahverkehr schwer.

Florian Kutzner ist als Sozialpsychologe an der Universität Heidelberg tätig und berät Kommunen zum Thema Mobilität.
Florian Kutzner ist als Sozialpsychologe an der Universität Heidelberg tätig und berät Kommunen zum Thema Mobilität.

© privat

Wie könnte man Autofahrer dazu bewegen, auf Bus und Bahn umzusteigen?

Auf den erhobenen Zeigefinger reagieren die meisten trotzig. Um zu überzeugen, muss man informativ und subtil sein. Wichtig ist, für die Alternativen zu argumentieren, nicht gegen das Auto.

Aber die Berliner können sich nicht immer auf U- und S-Bahn verlassen.

Man kann auch wertebasierte Argumente bringen: Der öffentliche Nahverkehr ist sozial und ökologisch nachhaltiger.

Für das Auto sprechen Sicherheit und Privatsphäre.

Die körperliche Nähe zu anderen Menschen empfindet nicht jeder als angenehm. Manche können diese Ängste nur schwer überwinden. Bus und Bahn zu nutzen heißt sozial aktiv zu sein.

Während die Berliner im Stau stehen, verlieren sie Lebenszeit. Was macht das mit ihnen?

Die Zeit, die man mit dem Pendeln verbringt, ist mit die unglücklichste Zeit, die man in seinem Leben hat. Das belastet im Moment, wirkt aber schon am Abend weniger schlimm. Den nächsten Stau, so glaubt man, kann man sicher umfahren.

Florian Kutzner ist als Sozialpsychologe an der Universität Heidelberg tätig. Unter anderem berät er Kommunen zum Thema Mobilität.

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Ina Bullwinkel

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