zum Hauptinhalt
Der Münchner Kardinal hat nicht nur die Kirchenwelt in Aufregung versetzt, als er im Juni seinen Rücktritt anbot.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Missbrauchsskandal, Austrittswelle, Streit in der katholischen Kirche: Das "Toter Punkt"-Fazit von Kardinal Marx ist ein Auftrag. Er sollte ihn annehmen

Die Kirche scheint willens, sich ihren inneren Abgründen zu stellen. Nicht nur das stärkt Kardinal Marx, während sein Kollege Woelki immer ängstlicher wirkt. Eine Analyse.

- Matthias Drobinski war Kirchenexperte viele Jahre der „Süddeutschen Zeitung“, jetzt ist er Reporter der kirchenunabhängigen christlichen Zeitschrift „Publik-Forum“.

Es war im Winter 1944/45, im Gefängnis Berlin-Tegel. Die Hinrichtung durch die Nazi-Justiz vor Augen, schreibt der Jesuitenpater Alfred Delp: Die Kirchen stünden sich „durch die Art ihrer Daseinsweise“ selbst im Weg: „Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt.“ Die christliche Idee sei keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts. „Immer noch liegt der ausgeplünderte Mensch am Wege.“ Seine düstere Ahnung: „Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des (wahren) Lebenswillens von der (gewohnten) Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen.“

Die Kirche am toten Punkt. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx, hat, als er nicht mehr Erzbischof sein mochte, den Märtyrer Alfred Delp zitiert, um zu erklären, warum er Papst Franziskus um Entpflichtung vom Amt gebeten hat. Das mag pathetisch klingen und ist typisch für Marx, der selbst beim Rücktritt der Beste sein möchte. Das hat aber auch viele Menschen verletzt, die mit aller Kraft und ehrlichen Herzens daran arbeiten, dass es weiter geht mit der katholischen Kirche.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Doch Alfred Delps vor bald 80 Jahren formulierte Sätze beschreiben erstaunlich gut, worum es geht in dieser Krise der katholischen Kirche, der größten nichtstaatlichen Institution der Bundesrepublik, der noch fast 23 Millionen Menschen angehören. Die Krise der katholischen Kirche ist existenziell. Sie betrifft den Kern ihres Glaubens. Sie berührt die Frage, ob das Zeugnis der Christinnen und Christen in dieser Gesellschaft lebendig bleibt oder zum Museumsstück wird, das ab und zu, leicht angestaubt, herausgeholt wird aus dem Fundus des Kulturvorrats und ausgestellt zur Pflege des gerade geltenden Abendlandes.

Ihr Liebesversprechen hat zur Gewalt geführt

Alfred Delp haderte mit den Kirchen, die den Nationalsozialismus nicht hatten verhindern können, weil sie ihre Rechtgläubigkeit, ihre Absicherung, den Schutz des Milieus über die Solidarität mit den Gefolterten stellten. Die gegenwärtige Krise dagegen hat ihre Ursache im Unvermögen der Institution, ihres Führungspersonals, auch ihrer Mitglieder, sich den inneren Abgründen ihrer Kirche zu stellen: Ihr Liebesversprechen hat zur Gewalt geführt, die Lehre von der heiligen Kirche zur Vertuschung, die Täter nennen sich Männer Gottes.

Der Missbrauchsskandal hat der Institution Kirche massiv beschädigt, aber die ist nicht alles. Es geht auch um den Glauben.
Der Missbrauchsskandal hat der Institution Kirche massiv beschädigt, aber die ist nicht alles. Es geht auch um den Glauben.

© Nicolas Armer/dpa

Ein großer Unterschied – doch die Mechanismen des Versagens ähneln sich frappierend: Die Rechtgläubigkeit steht über den verletzten Menschen, die etablierte Lebensweise über dem Lebensdienlichen. Die Kirche soll unverbeult durch die Zeit kommen, ihr Personal ohne blaue Flecken. Was nicht nachzuweisen ist, ist auch nicht zu bereuen; ohne Zwang gibt es nichts zu ändern, ein Panzer schützt gegen die kritische Welt.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Nur akzeptieren das nicht einmal mehr die Frommen ihrer Kirche, das zeigt der Konflikt um den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki. Die Austrittswelle im Erzbistum Köln ist nicht getragen vom großen Egal der Säkularisierung, sie ist getrieben vom Zorn der Enttäuschten. Es hilft nicht mehr, dass sich nun viele Bischöfe um Aufklärung im Missbrauchsskandal bemühen und auf dem Synodalen Weg über Macht, Sexualmoral, Zölibat und Frauenweihen reden, mit welchem Ausgang auch immer. Es hilft nicht, dass es jetzt zum ersten Mal eine Generalsekretärin der Deutschen Bischofskonferenz gibt. Das hätte vielleicht 2010 geholfen. Jetzt fährt der richtende und zerstörende Blitz der Geschichte hernieder.

Marx agiert so ganz anders als Woelki

Es spricht für Kardinal Marx, dass er aus seiner Erkenntnis die Konsequenzen zog und dem Papst anbot, politisch wie geistlich die Verantwortung für die Krise zu übernehmen. Aber auch er hat als Kardinal und Chef der Bischofskonferenz die Ankunft am toten Punkt nicht verhindern können; zu lange war er Teil des Systems, das er nun beklagt. Jetzt immerhin hat er es grundsätzlich in Frage gestellt und versucht, es zu durchbrechen.

Umso ängstlicher erscheint dagegen Kölns Kardinal Woelki, der sich ans Amt klammert, das ihm längst entglitten ist, ganz gleich, welche Konsequenzen der Papst aus dem Bericht der beiden Visitatoren ziehen wird, die in seinem Auftrag die Zustände im von der Katholikenzahl her größten Erzbistum Deutschlands untersuchten.

Kardinal Rainer Maria Woelki hatte in seinem Kölner Erzbistum Besuch von päpstlichen Visitatoren.
Kardinal Rainer Maria Woelki hatte in seinem Kölner Erzbistum Besuch von päpstlichen Visitatoren.

© Federico Gambarini/do/dpa

Das könnte alles egal sein, wenn es nur um die Institution Kirche um ihrer selbst willen ginge: um ehrwürdige Gebäude und erhebende Rituale, die schöne Position im Staat. Mit genügend Willen zur Selbstmarginalisierung ist das alles kleinzukriegen; nicht einmal Jesus hat versprochen, die Kirchen auf allen Holzwegen bis ans Ende der Zeit zu erhalten. Wäre da nicht Delps Satz vom ausgeplünderten Menschen am Wegesrand.

Das Gottesgerücht hilft einer Gesellschaft, die ihre Grenzen überdehnt

Für den sind sie da, die Kirchen, über die Pflege von Gemeinschaft, Brauchtum und kulturellem Erbe hinaus. Für die Würde der Menschen und Geschöpfe. Dafür, dass das Gottesgerücht bleibt in einer Gesellschaft, die in Gefahr ist, ihre Grenzen zu vergessen. Für die von keiner Wirklichkeit zu zerstörende Hoffnung, dass Gewalt, Hass, Tod nicht das Ende bedeuten.

Das wäre diesmal das historische Versagen der Kirchen in dieser Krise, der katholischen zuerst, aber auch der evangelischen: Indem sie sich der Erkenntnis verweigert, dass der Missbrauchsskandal ein schmerzhaft anderes Denken über sich selbst erfordert, betrügt Menschen um diese Hoffnung. Sie vertreibt den widerspenstigen Geist, der so wichtig wäre gegen all die Selbstgewissheit und die Unfehlbarkeitsanmaßung, die einem fast überall entgegenschlägt.

Nach dem Krieg zählte die Kirche sich selbstgewiss zu den Siegern

Die katholische Kirche am toten Punkt, der notwendigerweise ein Wendepunkt ist. Es bleiben Absturz oder radikale Umkehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlug die katholische Kirche in Deutschland Alfred Delps Warnung zunächst in den Wind, sie wiegte sich in der triumphalen Selbstgewissheit, zu Hitlers Gegnern und damit zu den Siegern der Geschichte zu gehören. Bis ein prophetischer Papst kam, Johannes XXIII., der erkannte, dass die Moderneverweigerung die katholische Kirche an jenen toten Punkt geführt hatte – und im Januar 1959 das Zweite Vatikanische Konzil ankündigte.

Papst Franziskus hat das Rücktrittsgesuch von Kardinal Marx abgelehnt, ganz offensichtlich zu dessen großer Überraschung. Die Begründung lässt sich so deuten: Es geht nicht, sich in der größten Krise zu verdrücken, ein Jeder macht mal Fehler, und Sünder sind wir alle (Kardinal Woelki dürfte das als hilfreich empfinden). Marx bringt das eine große Freiheit: Er kann nun seins dazu tun, um den toten Punkt zu überwinden, den er diagnostiziert hat.

Er könnte zum Beispiel verkünden, dass er es schön fände, wenn Frauen, da sie nun mal noch nicht zur Priesterin geweiht werden können, häufiger in den Sonntagsgottesdiensten des Erzbistums predigen würden (was sie bislang offiziell nicht dürfen). Er könnte am nächsten Valentinstag Liebespaare segnen, ob hetero- oder homosexuell. Er könnte, bevor er die Kommunion austeilt, sagen: Alle Christinnen und Christen, gleich welcher Konfession, sind herzlich eingeladen. Was könnte ihm passieren? Konservative Katholikinnen und Katholiken könnte es übelnehmen, und der Papst könnte verfügen: Du bist nicht mehr Erzbischof von München und Freising. Marx könnte dann lächelnd antworten: Habe ich es nicht gleich gesagt?

Matthias Drobinski

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false