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Staatenlose Rohingya in Indonesien

© Imago/Zuma Wire

Millionen ohne Pass und ohne Rechte: Corona-Pandemie verschärft Lage von Staatenlosen

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung legt einen „Atlas der Staatenlosen“ vor - mit alarmierenden Daten zu einem vernachlässigten Problem.

Von Matthias Meisner

4,2 Millionen Staatenlose sind registriert, etwa zehn Millionen werden vermutet - die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat am Donnerstag einen „Atlas der Staatenlosen“ vorgestellt und damit auf die Schicksale einer Bevölkerungsgruppe hingewiesen, die in vielen Ländern der Welt in unterschiedlicher Weise von Diskriminierung betroffen ist.

Millionen von Menschen hätten ohne eigenes Verschulden keine eigene Staatsangehörigkeit, sagte die Geschäftsführerin der Stiftung, Daniela Trochowski, in Berlin.

In vielen Einzelbeispielen dokumentiert die Linken-nahe Stiftung, wie Staatenlose ausgeschlossen sind vom Reiserecht, vom Arbeitsmarkt, vom Wahlrecht und Gesundheitsversorgung. Und wie sich die Situation in der Coronakrise noch verschärft, weil die Betroffenen beispielsweise in vielen Ländern von Test-Möglichkeiten ausgeschlossen werden.

Andere zum Teil dramatische Entwicklungen laut Studie: Sind die Grenzen komplett geschlossen, entfallen reguläre Flucht- und Asylmöglichkeiten. Viele Staatenlose seien aufgrund der Sperrmaßnahmen arbeitslos geworden.

Risiko von Zwangsprostitution und Kinderheirat

Staatenlose Frauen und Mädchen, die aufgrund der Pandemie anderweitig nichts verdienen, würden Gefahr laufen, in Prostitution und Kinderheirat gezwungen zu werden. Autoritäre Regime könnten die Coronakrise nutzen, um Staatenlose stärker zu überwachen.

Laut der 68-seitigen Analyse lebt die Hälfte der Betroffenen in vier Ländern - Elfenbeinküste, Bangladesch, Myanmar und Thailand. Aber auch in anderen Staaten wie der kleinen Balten-Republik Lettland oder im Bürgerkriegsland Syrien sind gemessen an der Bevölkerungszahl überproportional viele Staatenlose registriert.

Im Libanon werden in Haushalten mit Staatenlosen vor allem die Mütter diskriminiert. Eine Zusammenfassung des Berichts soll am Samstag der „taz“ und dem „Neuen Deutschland“ beigelegt werden.

Roma in vielen europäischen Ländern betroffen

Die Hintergründe einer Staatenlosigkeit sind extrem verschieden. In den wenigsten Fällen handelt es sich um Flüchtlinge. Besonders betroffen sind Roma in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern, Palästinenser etwa in Syrien, Nomaden in west- und zentralafrikanischen Staaten. Und vor allem in Myanmar die Rohingya, die dort als muslimische Minderheit ausgeschlossen werden.

In den drei baltischen Ländern war nach dem Zerfall der UdSSR mit dem Wiederaufbau der Nationalstaaten und ihrer nationalen Identitäten begonnen worden - mit unterschiedlichen Strategien hinsichtlich der Staatsbürgerschaften.

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Allein in Lettland werden mehr als 200.000 Staatenlose registriert, mehr als jeder zehnte der Einwohnerinnen und Einwohner des Landes.

Dunkelziffern der Staatenlosen sind nach Einschätzung des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR in vielen Ländern Afrikas, in China und in Amerika erheblich. In den USA solle die Staatsbürgerschaft für im Land geborene Kinder künftig nicht mehr selbstverständlich sein, heißt es.

Etwa die Hälfte aller Länder erhebt keine Daten

Etwa die Hälfte aller UN-Mitgliedsstaaten erhebt überhaupt keine Daten zu Staatenlosen. Matthias Reuß, der für UNHCR in der Region Asien-Pazifik tätig ist, sagte, in einem starken Rechtsstaat wie Deutschland sei die Lage für Staatenlose „nicht so dramatisch wie in anderen Ländern, wo sich keiner auf die Menschenrechte berufen kann“. In vielen Ländern gebe es beim Umgang mit Staatenlosen „extreme Menschenrechtsverletzungen“.

Es ist eine Entwicklung mit langer Geschichte: Mit der Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert habe die Nichteinbürgerung von Inländern begonnen, mit dem Ersten Weltkrieg die Ausbürgerung eingesetzt.

Beispielhaft erwähnt werden prominente Staatenlose - Deutsche wie Willy Brandt, Bertolt Brecht, Hannah Arendt oder Kurt Tucholsky, die vom NS-Regime ab 1933 ausgebürgert wurden, Charles Aznavour als Sohn armenischer staatenloser Eltern, der Schriftsteller Milan Kundera, der Ende der 70er Jahre als Menschenrechtler von der CSSR ausgebürgert wurde. Oder Karl Marx, der 1845 in Paris die preußische Staatsbürgerschaft wegen Gefahr der Auslieferung ausgab.

„Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass Menschen staatenlos sind“, schreibt Dagmar Enkelmann, die Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung, im Vorwort der Studie. Sie sagt, die Konsequenzen seien für die Betroffenen so unterschiedlich wie weitreichend: „Staatenlose sind Menschen, die besonders verletzlich sind, weil kein Staat sie schützt und sie keinen Zugang zu grundlegenden Rechten haben.“

Die Gesellschaft und die internationale Staatengemeinschaft seien weit davon entfernt, dass das „Recht auf Rechte“ im Alltagsbewusstsein und im politischen Handeln Richtschnur seien.

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