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Plötzlich gilt Spaniens Politik als Vorbild - obwohl sich am Prinzip scharfer Grenzsicherung nichts geändert hat, hier in der afrikanischen Enklave Ceuta.

© Antonio Sempere/EFE/dpa

Migrationspolitik in Europa: Die Quelle der Liberalität ist Härte der Vorgänger

Progressive in Deutschland loben die Flüchtlingspolitik des spanischen Regierungschefs Sanchez im Kontrast zu Italien. Was ist Ursache, was Wirkung? Ein Kommentar

Die Anhänger einer liberalen Migrationspolitik haben einen neuen Helden: den spanischen Sozialisten Pedro Sanchez. Der telegene Chef einer Minderheitsregierung ist der Kontrapunkt zur „Das Boot ist voll“-Rhetorik der Koalition aus Rechts- und Linkspopulisten in Italien. Als Rom der „Aquarius“, einem Schiff privater Flüchtlingshelfer, im Juni die Einfahrt in italienische Häfen verweigerte, bot Sanchez Aufnahme in Spanien an.

Rücknahmedeal mit Deutschland, Klima gegen Populismus

Mit Deutschland hat er die Rücknahme von Asylbewerbern vereinbart – dass dies nur für die kleine Zahl derer gilt, die in Spanien einen Antrag gestellt haben und dennoch zur bayrischen Grenze weiterziehen, stört die Bewunderer nicht weiter.

Ihnen ist wichtig, dass Sanchez nicht einknickt, obwohl er unter Druck gerät, da sich die Hauptfluchtroute über das Mittelmeer allmählich von Italien nach Spanien verlagert. Er habe ein Klima geschaffen, in dem es der Versuch des Stimmenfangs mit flüchtlingsfeindlichen Parolen schwer habe. In internationalen Umfragen sind Spanier viel offener für die Aufnahme von Einwanderern und Hilfsbedürftigen als Italiener.

Heute darf das Flüchtlingsschiff nicht mehr nach Spanien

Nur: Was ist Ursache und was Wirkung? Mal abgesehen, davon, dass die Umfragen zur höheren Aufnahmebereitschaft Spaniens älter sind als Sanchez’ Regierungsantritt und dass er die "Aquarius" heute nicht mehr nach Spanien lassen möchte - was spricht für die Hoffnung, dass nur einer wie er kommen müsse, der den Bürgern Mut zu einem humanen Umgang mit Migranten macht und sich weigert, den Rechten nach dem Mund zu reden, und dann geraten die Populisten in die Defensive?

Plausibler klingt, dass die Abfolge gerade umgekehrt war: Weil Spanien seit Jahrzehnten konsequent Migrationswellen abwehrt, hat das Land nie die Überforderung erlebt, unter der Italien leidet, und deshalb ist die Stimmung weniger flüchtlingsfeindlich. In den Jahren 2013 bis 2016 migrierten laut EU-Statistiken 700 000 Menschen aus Staaten außerhalb der EU nach Italien, aber nur 30 000 nach Spanien.

Früher war das Land Beispiel für Unmenschlichkeit

Die Stilisierung Spaniens zum Vorbild progressiver Migrationspolitik ist ein ziemlich junges und eher überraschendes Phänomen. In Filmen über die „Festung Europa“ dienten die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla auf der afrikanischen Seite des Mittelmeers den Anklägern bisher als Beispiel für die Unmenschlichkeit der Abschottung durch hohe Mauern, die zudem mit messerscharfen Klingen gegen Überklettern gesichert waren. 2006 erlebten die zu Spanien zählenden Kanarischen Inseln eine Migrationswelle aus Westafrika: 32 000 kamen in einer Saison mit kleinen Booten. Sie wurden zum Großteil gleich wieder zurückgebracht. Der Zustrom sank in den Folgejahren.

Selbstverständlich ist Sanchez’ Sprache, die in jedem Migranten, ob legal oder illegal, den Menschen respektiert, eine Wohltat, zumal im Vergleich mit der aufhetzenden Wortwahl italienischer Regierungspolitiker. Am praktischen Umgang mit Migrationsdruck – strikte Grenzsicherung in Kooperation mit afrikanischen Anrainern, voran Marokko, und der Abschreckung illegaler Einwanderer durch rasche Rückführung – hat Sanchez aber wenig geändert. Er scheint zu wissen, dass er sein Land vor dem Gefühl von Überforderung durch Massenmigration bewahren muss.

Lehren aus dem Vergleich Spanien-Italien

Die Lehre aus dem Vergleich Spaniens mit Italien: Staaten müssen Handlungsfähigkeit beweisen und den Eindruck von Kontrollverlust vermeiden. Es genügt nicht, bei wachsendem Migrationsdruck Ventile zu öffnen und Migranten, die über Italien nach Europa kommen, den Weg nach Norden zu weisen, weil Italien doch sowieso nicht ihr eigentliches Ziel sei. Italien hat in der Folge die Kontrolle über die Migrationsbewegung und über den öffentlichen Diskurs verloren. Die Populisten geben den Ton an, rechts wie links.

Auch die deutsche Erfahrung weist in diese Richtung. Als Anfang der 1990er Jahre die Asylbewerberzahlen stiegen und der Rechtspopulismus wuchs, fanden die Parteien der Mitte zu einer Neuregelung des Asylrechts zusammen. Die Asylzahlen sanken, die Rechtspopulisten büßten für viele Jahre an Zuspruch ein.

Was Populisten nutzt - und was ihnen schadet

Man kann Europa nur wünschen, dass Sanchez mit seiner Mischung aus freundlichen Worten und unverändert restriktiver Praxis Erfolg hat und die Straße von Gibraltar nicht zum neuen Lampedusa wird, dem Synonym für eine gescheiterte Migrationspolitik. Das würde seinen Kurs diskreditieren. Der Vorwurf, dass schärfere Regeln die Populisten stärken, weil die Mitte damit deren Forderungen nachgebe, ist nach diesen Erfahrungen falsch. Der Populismus erhält Zulauf, wenn die bürgerlichen Parteien sich notwendigen Änderungen verweigern.

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