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Angela Merkel hält eine Rede zum Tag der Deutschen Einheit in Kiel.

© Carsten Rehder/dpa

Merkels wichtige Rede zur Deutschen Einheit: Wir sind das Volk? Wir sind der Staat!

In ihrer Rede hat Angela Merkel über die Einheit von Ost und West gesprochen, aber auch über die Einheit von Bürgern und Staat. Das ist wichtig. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Es war eine wichtige Rede, die Angela Merkel zum Tag der Deutschen Einheit gehalten hat. Die Kanzlerin, der oft eine Entfremdung von der Gesellschaft nachgesagt wird, hat den Finger auf ein gravierendes Problem gelegt: die mangelnde Bereitschaft vieler Deutscher zur Mündigkeit. Sie hat das getan, ohne jemanden an den Pranger zu stellen. Sie hat eingeräumt, dass Mündigkeit Kraft kostet. Aber sie hat dennoch zumindest angedeutet, dass es in Deutschland an Mündigkeit fehlt – und das könnte der Auftakt zu einer wichtigen Debatte sein.

In den vergangenen Jahren haben es sich nicht wenige Deutschen – im Westen wie im Osten, wenn auch vielleicht im Osten zu einem größeren Anteil – angewöhnt, Bürger und Staat als getrennte Einheiten zu betrachten. Man wettert über „den Staat“, „die Parteien“, „die Regierung“, ohne sich als Teil davon zu sehen – nicht einmal potenziell. „Die Politik“ wird als repressives Gegenüber wahrgenommen. Erst in dieser Woche veröffentliche „Die Zeit“ wieder eine dieser deprimierenden Studien, in denen 41 Prozent der Ostdeutschen zu Protokoll geben, man dürfe seine Meinung nicht freier sagen als vor 1989 und 58 Prozent der Ostdeutschen sagen, man sei heute nicht besser vor staatlicher Willkür geschützt als zu Zeiten der DDR.

Viele sind wütend auf „den Staat“, der nicht liefert oder fühlen sich von einer vermeintlichen „linksgrünen“ Verbotspolitik gegängelt. Auf die Idee, sich zum Teil des Ganzen zu machen, um es zu ändern – wie es die 68er mit ihrem „Marsch durch die Institutionen“ taten – kommen allerdings immer weniger. Und das ist bei Weitem kein Ostproblem. Auch im hessischen Altenburg fand sich keiner, der Ortsvorsteher sein wollte (weshalb man den Posten an einen NPD-Mann vergab).

Der Populismus wirbt mit Volksermächtigungsfantasien, die bequem sind

Der Populismus unterstützt diese Haltung mit einer Volksermächtigungsfantasie („Wir sind das Volk“), die aber letztlich auch keine echte, persönliche Einmischung einfordert, sondern vielmehr davon entlastet: Mit einer Stimme für die AfD ist die Wut zum Ausdruck gebracht und damit die politische und kreative Energie, die Wut haben kann (die sie ja zum Beispiel 1989 hatte!) verpufft. Alles weitere erledigen dann wieder die gauländer Großbürger.

Der Historiker Herfried Münkler sprach in einem Interview kurz nach den Erfolgen der AfD bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg von „immer größeren Gruppen missmutiger Eckensteher“. Das ist gemein formuliert – hat aber einen wahren Kern. Wut gibt es viel. Mut zur Mündigkeit wenig.

Angela Merkel hat das in ihrer Rede zu Deutschen Einheit verbindlicher formuliert. Durch die Wende hätte man plötzlich „erfahren können (...), wo es wirklich der Staat war, der unseren individuellen Stärken die Grenze setzte, und wo es das eigene Unvermögen war“, sagte Merkel in ihrer Rede. Für manchen aber blieb der Staat die „fast perfekte Entschuldigung für eigene Unzulänglichkeiten“.

Nun sind die sozialen Hürden, die der Selbstermächtigung zur Mündigkeit im Wege stehen, unbestritten hoch, besonders in Ostdeutschland. Jetzt, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, werden sie von Soziologen und Historikern wieder minutiös beschrieben.

Wir sind der Staat

Auch hat Angela Merkel mit ihrer Politik der asymmetrischen Demobilisierung und ihrem jahrelangen „Vertrauen Sie mir“- und „Sie kennen mich“-Mantra dazu beigetragen, dass sich eine politische Passivmentalität über Teile des Landes gelegt hat, ein Gefühl, der Staat, inklusive seiner Parteien und Politiker, sei ein gewählter Dienstleister, dem man das Gemeinwohl alle vier oder fünf Jahre per Wahl überreicht und sich dann wieder in die Laube zurückzieht. Umso wichtiger, dass Merkel diese Mentalität jetzt – wenn auch umsichtig – thematisiert.

Die Einheit, hat Merkel an diesem 3. Oktober gesagt, sei kein Status, sondern ein Prozess. Nicht nur die Einheit zwischen Ost und West, sondern auch die Einheit zwischen Staat und Gesellschaft muss wieder neu erarbeitet werden. Über Mündigkeit zu reden, ist ein erster, winziger Schritt. Wir sind der Staat.

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