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Leere Straßen in einer Stadt in Brandenburg.

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Merkel und die Corona-Notbremse: Ausgangssperren sollen die Fehler im Krisenmanagement übertünchen

Angela Merkel will die Notbremse ziehen und erwägt Ausgangssperren. Aber es braucht jetzt neue Ansätze, mehr Mut – und mehr Pilotprojekte. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Georg Ismar

Peter Struck hat über Angel Merkel mal gesagt, sie sei eine perfekte Pilotin. Mit ihr im Cockpit fühle sich jeder sicher und entspannt. „Nur weiß man nie, wo man mit ihr landet.“ Es beschreibt diese oft erfolgreiche auf Sicht-Fahren-(oder Fliegen)-Politik ziemlich gut. Die Kanzlerin kann Krisen, heißt es. Aber jetzt, wo sie keine Wahl mehr fürchten muss, wo sie mehr Konflikt und Durchregieren riskieren kann, erscheint sie etwas abgetaucht.

Kein Vergleich zu Führungsstärke und Präsenz in der ersten und die meiste Zeit der zweiten Welle.

Dabei ist die Lage fatal: Zu wenig Schnelltests, die Öffnungen absichern sollten. Zu wenig Impfstoff, der der einzige Weg raus aus Lockdown und Pandemie ist. Es bringt die Ministerpräsidenten mächtig auf die Zinne, dass Merkel Kita- und Schulschließungen ab einer Inzidenz von 100 in der Beschlussvorlage für die Bund-Länder-Schalte an diesem Montag androht, wenn nicht Erzieherinnen, Lehrer und Kinder zwei Mal pro Woche getestet werden können.

Und dann legt Merkel auch noch bundesweite Ausgangssperren auf den Verhandlungstisch. Als ob harte Maßnahmen die eigenen Versäumnisse im Krisenmanagement übertünchen sollen.

Hört man sich in Länderkreisen um, ist das Vorgehen für eine bundesweite Ausgangssperre ab einer 100er-Inzidenz zum Scheitern verurteilt. Richtig neue Ideen gibt es nicht.

All diese Vorschläge werden das Gegen- statt Miteinander zwischen Bund und Ländern weiter verstärken - und die Pandemiepolitik immer mehr zu einer regionalen Angelegenheit.

Das größte Misstrauensvotum gibt es gegen die Corona-Warn-App des Kanzleramts. Länderchefs wie Manuela Schwesig beerdigen sie bereits öffentlich, indem sie Verträge mit der privaten Kontaktnachverfolgungs-Luca-App abschließen.

Mehr Öffnungs-Pilotprojekte

Und längst setzen die Länder auf eigene Pilotprojekte, um mit Massen-Schnelltests auszuprobieren, wie ein sicheres Leben mit dem Virus möglich sein kann, das schrittweise mehr Freiheiten - und Hoffnung - zurückgibt. Siehe zum Beispiel das gelungene Experiment mit getesteten Besuchern in der Berliner Philharmonie. Oder Hans Rostock, die wieder Zuschauer ins Stadion gelassen haben.

Geld ist jetzt egal, daher muss der Bund alle Schnelltests besorgen, die irgendwie zu bekommen sind.

Die Lage ist hochfragil und durch die Mutanten gefährlich. Aber es braucht dennoch viel mehr solcher gut abgesicherter Pilotprojekte, weniger ein starres Fixieren auf Inzidenzen, um auf Basis von Praxiserfahrungen differenziertere Entscheidungen zu treffen. Solche Modellversuche könnten auch bei der Öffnung der Außengastronomie eine Option sein, zumal draußen das Infektionsrisiko um ein vielfaches geringer ist.

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Merkel wollte den Flieger am Boden lassen

Klar, die Kanzlerin hätte schon bei der letzten Schalte Anfang März das Flugzeug am liebsten am Boden gelassen. Es hob dann ab und geriet sofort in B.1.1.7-Turbulenzen – Merkel wirkte wie eine teilnahmslose Co-Pilotin - nach dem Motto, seht ihr: Ich habs' euch ja gleich gesagt. Sie wird nun wieder das Steuer übernehmen und bei der Bund-Länder-Schalte eine kontrollierte Notladung versuchen. Und der Lockdown wird bis zum 18. April verlängert.

Läden, Museen, Galerien und Zoos werden gemäß der vereinbarten Notbremse ab einer 100er-Inzidenz wieder geschlossen, Kontaktbeschränkungen auf einen Haushalt mit einer weiteren Person überall dort verschärft, wo es mehr als 100 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner in sieben Tagen gibt. Osterreisen und Verwandtenbesuche werden nur sehr begrenzt möglich sein, Bund und Länder werden wieder Verzichtsappelle machen. Aber die Stimmung ist gefährlich angespannt, vor allem die Union bekommt das zu spüren. Mit Merkels Amtszeit könnte auch die Regierungszeit von CDU/CSU enden.

Merkels Methodenansatz kommt an Grenzen

Wo Macherqualitäten und neue Ideen gefragt sind, kommt Merkels Moderations- und vor allem ihr Methodenansatz in dieser Krisenphase an Grenzen;  die Kakophonie - und der Öffnungsdruck - der Ministerpräsidenten tut das Übrige dazu.

Armin Laschet wollte im Windschatten ihrer Beliebtheit mit so einem Moderations-Kurs ins Kanzleramt schweben. Es sei die Prognose gewagt: Er wirkt allen Umfragen zufolge in seinem Image derzeit so beschädigt, dass das nicht klappen könnte.

Rasant wachsen auch die Zweifel an ihm im eigenen Lager.

Diese Melange sich überlappender Krisen, von Pandemie bis Korruption; die ungeklärte Machtfrage der Union –  das macht die Lage hochexplosiv.

Zuallererst wollen die Bürger jetzt - auch wenn es kaum möglich ist - mehr Klarheit, irgendeine Pandemieperspektive. Der beim letzten Mal auf ein Din-A4-Blatt gepresste Stufenplan mit den Lockerungen ist angesichts der dritten Welle Makulatur.

Nach dieser Niederlage, als die Ministerpräsidenten Merkels 35-Inzidenzgrenze für Lockerungen kippten und auf 50 bis 100 aufweichten, blieb sie fast unsichtbar. Kaum Auftritte. Schweigen, als auf der Kippe stand, ob mit Astrazeneca weitergeimpft werden kann. Übrigens auch zu den Korruptionsaffären in der Union.

Das Schulproblem

Als ein Pandemietreiber haben sich ausgerechnet Schulen und Kitas erwiesen, der Dortmunder Oberbürgermeister berichtet, dass sich bei der Mutante B1.1.7. zu praktisch 100 Prozent eine Übertragung daheim auf die Eltern feststellen lässt. Und damit drohen aktuell, wo immer mehr über 80-Jährige zum Glück geimpft sind, schwere Schäden und Intensivfälle bei den jüngeren Generationen darunter.

Trotz hoher Zahlen untersagt dennoch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und CDU-Chef Laschet Städten wie Dortmund und Duisburg weiterhin Schulschließungen.

Durch den Wechselunterricht geht es vor den Osterferien ohnehin nur um 2,3 Tage, da könnte man den Präsenzunterricht auch ganz stoppen. Das alles haben die Länder zu verantworten, genauso wie die organisatorischen Mängel und Hotline-Wut bei den Impfterminen.

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Wollte keine Lockerungen und will jetzt die Notbremse ziehen: Kanzlerin Angela Merkel.
Wollte keine Lockerungen und will jetzt die Notbremse ziehen: Kanzlerin Angela Merkel.

© imago images/Christian Thiel

Die Optionen: Mehr Schnelltests und Impfungen

Merkel und ihre Regierung - vor allem Gesundheitsminister Jens Spahn - haben vor allem nicht liefern können, was das schnellere Beschaffen von mehreren hundert Millionen Schnelltests anbelangt – mit Schnelltests mehrfach die Woche an jeder Schule und Kita wären auch mehr Infektionen dort früher aufgefallen. Und das größte Versäumnis bleibt, dass neben der Entwicklungsförderung nicht frühzeitiger auch eine Impfstoff-Massenproduktion in der EU angeschoben wurde.

Jemand wie US-Präsident Joe Biden zeigt gerade, wie Führung und Massenimpfen geht, gepaart mit dem Optimismus, dass es bald überstanden ist.

Warum wird nicht viel umfassender als bisher die Bundeswehr eingesetzt? Erst bei den Schnelltests, dann beim Impfen. Übrigens sollte auch jeder Rückkehrer etwa aus Mallorca am Flughafen getestet werden. Erst wollte Merkel zudem eine Testpflicht für Unternehmen, dann ließ sie sich davon wieder abringen. So kamen überall Kompromisse raus, so wie beim Dauer-Lockdown mit Webfehlern und wenig kreativen Lösungen, die an einigen Stellen durchaus mehr Freiheit hätten ermöglichen könnten.

Gefragt sind jetzt mutige Manöver

Wissenschaftler glauben, sobald 30 Prozent der Menschen durch Impfungen immunisiert sind, werden die Zahlen trotz Mutanten auf das Niveau im Sommer zurückgehen, dann wäre es geschafft. Aktuell beträgt die Impfquote erst rund neun Prozent. Warum hört Merkel nicht einfach auf Karl Lauterbach? Statt Impfstoff für die Zweitimpfung zurückhalten, alles in die Erstimpfungen reinbuttern, damit viel mehr Bürger - und zwar jetzt schon - über die Hausärzte in der Fläche geimpft werden können – die Immunisierung ist nach einer Impfung schon hoch, ein längerer Zeitabstand zur Zweitimpfung laut Studien kein Problem.

Das würde auch die Infektionszahlen senken und stabile Lockerungsperspektiven ermöglichen. Es geht für die Kanzlerin bei allen unbestreitbaren Verdiensten auch darum, mit welchem Bild sie nach 16 Jahren aus dem Amt scheidet, Helmut Kohl sollte ihr da eine Mahnung sein. Statt einer soliden Pilotenleistung wäre vielleicht mal ein mutiges Manöver gefragt, damit das Ziel der Corona-Odyssee auch wirklich mal in Sicht kommt, statt eine Lockdownschleife nach der nächsten zu drehen.

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