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An diesem Mittwoch reist Kanzlerin Merkel nach Afrika. Die Aufnahme von 2017 zeigt Merkel den senegalesischen Präsidenten Macky Sall

© dpa/Michael Kappe

Merkel-Reise nach Nigeria, Ghana und Senegal: Es ist Zeit für „Africa first“

In Senegal haben ausländische Akteure viel Einfluss. Das passt nicht jedem im Land. Aktivisten fordern ein afrikanisches Bürgerbewusstsein. Ein Essay.

Ein Essay von Valentin Feneberg

Im Norden Dakars endet das enge Gitternetz der Stadt direkt an der Atlantikküste. Eine sandverwehte Straße trennt den menschenleeren Strand von den erdfarbenen Häusern, zwischen denen sich die Mittagshitze trotz des starken Windes anstaut. Vor einem unverputzten Flachbau drängt sich eine Traube Journalisten. Sie richten Kameras und Mikrofone auf zwei Rapper: auf Thiat und Kilifeu. Sie tragen bedruckte T-Shirts mit derselben Botschaft: „Y’en a marre“, „Uns reicht’s“.

Thiat, bürgerlich Cheick Oumar Touré, 39 Jahre alt, schaut grimmig wie immer, und wie immer trägt er eine dunkle Wollmütze, sie ist sein Markenzeichen. Er sagt: „Es hat sich so gut wie nichts verändert.“ Er sagt das, sechs Jahre nachdem die 2011 von ihnen gegründete Jugendbewegung mit ebendiesem genervten Namen „Y’en a marre“ es tatsächlich geschafft hat, dass der langjährige Präsident des Senegal die Wahl verlor und ein Nachfolger ins Amt kam. Es ist eine ziemlich bittere Bilanz.

Königsmacher hat man sie genannt und gefeiert. 2011 war ihr Ziel, die senegalesische Jugend, die anders als in Deutschland die Mehrheit der Bevölkerung stellt, für Demokratie und gegen den damaligen Präsidenten Abdoulaye Wade zu mobilisieren. Der Erfolg war durchschlagend: Tausende folgten Y’en a marre auf die Straßen Dakars und machten ihrem Ärger über die wirtschaftliche Stagnation des Landes und die uneingelösten Versprechen des greisen Präsidenten Luft. Im März 2012 dann setzte sich der Oppositionskandidat Macky Sall in einer Stichwahl gegen Wade durch.

Aber Königsmacher hin oder her: Auch von Macky Sall haben die Aktivisten genug. „Uns ist es niemals nur darum gegangen, einem anderen Präsidenten an die Macht zu verhelfen. Es braucht eine neue Mentalität, ein Volk, das sein Schicksal selbst in die Hand nimmt.“ Thiat sagt diese Dinge sehr routiniert. Er hat sie schon oft gesagt: bei senegalesischen Protestkundgebungen, für europäische Fernsehsender oder auf den Bühnen der Berlinale, wo ein Film über Y’en a marre 2016 mit dem Preis des internationalen Verbands der Filmkritik ausgezeichnet wurde.

„Wir sind keine Senegalesen, wir sind Afrikaner, die im Senegal geboren sind“

Die Aktivisten wollen ein neues Bürgerbewusstsein schaffen. Ein neues senegalesisches, oder gleich ein panafrikanisches. Einen „Nouveau Type de Sénégalais“. Für sie gehören ein demokratischer Aufbruch und die Emanzipation von den ehemaligen Kolonialmächten zusammen. Es geht um den selbstverantwortlichen Bürger, der sich um seine Stadt, sein Land, seinen Kontinent kümmert, der Rechte achtet, aber auch einklagen kann. Thiat zählt die Forderungen auf, die er und seine Anhänger haben: eine westafrikanische Währung, die nicht von Frankreich abhängig ist, die Stärkung afrikanischer Sprachen im Bildungssystem und einen afrikanischen Pass, um Bewegungsfreiheit zu garantieren. „Wir sind keine Senegalesen, wir sind Afrikaner, die im Senegal geboren sind“, sagt er. Und erinnert damit auf frappierende Weise an Debatten aus Europa, in denen es ebenfalls um die Neujustierung zwischen nationaler und internationaler Zugehörigkeit geht, um gefühlte und passvermerkte Identitäten – und wo die treibenden Kräfte ebenfalls die jungen Leute sind.

Wenn er über die Dominanz westlicher Konzerne im Senegal spricht, gerät Thiat schnell in Rage. Tatsächlich sind senegalesische Firmen an großen Zukunftsprojekten kaum beteiligt: Den neuen Flughafen hat ein türkisches Unternehmen gebaut, die Autobahnen kommen von Frankreich. Kommende Woche wird Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem Kurztrip erwartet. Es wird dann sicher um die Flüchtlingsfrage gehen, aber auch um wirtschaftliche Perspektiven. Und dann ist da noch China. Gerade erst Ende Juli war der chinesische Staatspräsident Xi Jinping auf Afrikareise. Seine erste Station war Senegal, wo China längst der größte Investor ist und sein Engagement noch ausbauen will: Die chinesischen Pläne für eine neue Seidenstraße beziehen auch Afrika mit ein. Während Xis Besuch wurden von den beiden Ländern zehn Verträge, darunter für die zentralen Bereiche Infrastruktur, Energie und wirtschaftliche Zusammenarbeit, geschlossen, und Xi bekam den „Grand-croix dans l'ordre national du Lion“ verliehen, die höchste Auszeichnung des senegalesischen Staates. Präsident Sall äußerte sich überaus zufrieden. „Senegal sieht das chinesische Engagement positiv“, sagte er, und: „China hat gezeigt, dass Unterentwicklung nicht Schicksal ist und dass der Kampf um Fortschritt vor allem mit Kampfgeist gewonnen wird.“

Mitglieder der Jugendbewegung "Y'en a marre" ("Uns reicht's") bei einer Pressekonferenz. Sie fordern mehr Demokratie im Senegal.
Mitglieder der Jugendbewegung "Y'en a marre" ("Uns reicht's") bei einer Pressekonferenz. Sie fordern mehr Demokratie im Senegal.

© AFP

Die „Musterdemokratie“ Westafrikas

Rapper Thiat dagegen regt sich auf: „Wir haben genug davon, dass unsere Politiker unsere Staaten an den globalen Norden verkaufen.“

Y’en a marre will ein Zeichen für Selbstermächtigung sein, für eine Gegenbewegung, ein Aufbegehren gegen die Fixierung aufs Ausland, sei es als Investor, als Fluchtziel oder als Helfer. Der bunt-versprenkelte Straßenaktivismus der Bewegung hat sich in den vergangenen Jahren zu einer konkreten politischen Agenda entwickelt, die durch verschiedene Projekte die Demokratieentwicklung im Land vorantreiben möchte. In westlichen Medien kommt zwar kaum ein Beitrag über den Senegal aus ohne die Feststellung, es handele es sich um Westafrikas „Musterdemokratie“. Und tatsächlich gibt es stabile politische Institutionen im Senegal, und alle Machtwechsel sind weitgehend friedlich verlaufen. Allein: Thiat und seinen Mitstreitern reicht das nicht. Ihrer Meinung nach haben sich die Politiker viel zu weit vom Volk entfernt. Vor allem aber hätten sie es verpasst, die Jugend in die Entwicklung des Landes zu integrieren. In einem Staat, in dem 60 Prozent der Bevölkerung unter 25 Jahre alt sind, will das etwas heißen. Nach den turbulenten Erfolgen 2012 ist die Bewegung, deren Hauptverlautbarungsorgan Thiats Hip-Hop-Band „Keur Gui“ („Unser Haus“) ist, deshalb nicht versiegt. Sie mobilisiert seit dem vergangenen Jahr wieder, als im Senegal Parlamentswahlen stattfanden, und wieder geht es um die chaotische Wählerregistrierung, die 2017 dazu führte, dass ein Fünftel der Wahlberechtigten nicht zur Abstimmung zugelassen wurde. Und auch für die kommende Wahl 2019 wird Chaos befürchtet.

All das war Thema bei der Freiluft-Pressekonferenz am Rande Dakars an dem windigen Apriltag. Die Aktivisten informierten außerdem über ihren Widerstand gegen ein neues Wahlgesetz, das inzwischen verabschiedet worden ist. Demnach bedarf es zukünftig der Unterstützung von einem Prozent der Wähler, um sich überhaupt als Kandidat aufstellen lassen zu können. Die Regierung möchte so der Inflation des Parteiensystems begegnen, in dem sich knapp 300 Gruppierungen tummeln. Die Opposition sieht darin einen plumpen Versuch, die Wiederwahl Macky Salls zu garantieren. Y’en a marre kündigten vor laufenden Kameras Demonstrationen an, was die Regierung für den Tag der Abstimmung offiziell untersagte. Wer trotzdem demonstrierte, wurde festgenommen. „Willkommen in unserer Musterdemokratie“, kommentierte Thiat das ironisch.

Eine gewisse Routine scheint sich in den Jahren aber eingestellt zu haben. Es sei immer die gleiche Schikane, sagt Thiat: „Sie wollen uns einschüchtern, aber das kann unseren Protest nicht verhindern.“ Wütend wird er erst wieder, wenn es um das große Prestigeprojekt des senegalesischen Präsidenten geht, von dem nun überall die Rede ist: Diamniadio, eine Retortenstadt, die etwa 30 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt aus dem Boden gestampft wird. Um Dakar zu entlasten, sagt Macky Sall. Um dem Präsidenten die Wiederwahl zu garantieren, sagt Thiat. „Damit lenkt er doch nur ab. Die Politik soll sich lieber um die Probleme in Dakar kümmern, als einfach eine neue Stadt vor den Toren der alten zu bauen.“

Tatsächlich mutet Diamniadio bei näherer Betrachtung sonderbar an: Hier und da ragen futuristische Gebäude mit großem Abstand voneinander aus der Steppe, eine weitverstreute Zukunft im Nirgendwo. Vor den Showtafeln der geplanten Luxushotels streifen Rinder durch den Sand. Dahinter: eine brache Baustelle. Ein paar Hundert Meter weiter ein glänzendes neues Stadion, zu dem noch keine Straße führt. Anfang Mai eröffnete Macky Sall mit viel Rummel die Gebäude der neuen Ministerien, die Diamniadios Wichtigkeit auch als Regierungssitz markieren sollen. Natürlich gebaut von ausländischen – größtenteils chinesischen – Firmen.

In einem Lied von Keur Gui singt Thiat: „Ihr habt uns kolonisiert, jetzt bestehlt ihr uns.“ Und wenn er und seine Band das live singen, dann tanzt das Publikum ausgelassen und singt laut mit, auf Wolof natürlich, der Verkehrssprache Senegals, die weit mehr Menschen sprechen als die einzige Amtssprache Französisch.

Alle Politiker sind Diebe - die Menschen in Senegal sind sich einig

Aber ist ein Aufstieg aus eigener Kraft wirklich möglich? Könnte Senegal sich China zum Vorbild nehmen und ihm nacheifern?

In einer Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung heißt es dazu kurz und knapp, die wesentlichen Infrastrukturmaßnahmen der jüngeren Vergangenheit – Flughafen, Sportstadien, die Retortenstadt Diamniadio, in der mindestens 15 Ministerien unterkommen sollen – „wären im Senegal ohne die Finanzierung externer Investitionspartner nicht realisierbar“. Das Land befindet sich demnach noch immer auf Platz 162 von 188 aufgeführten Ländern des Human Development Index der Vereinten Nationen und verfügt mit seinen 15 Millionen Einwohnern über ein Bruttoinlandsprodukt von lediglich 15 Milliarden US-Dollar.

Und was ist mit den Menschen in Senegal? Fragt man auf den Straßen danach, was die Leute von Y’en a marre halten, ist das Bild etwas ambivalenter, als es das begeistert mitsingende Konzertpublikum vermuten lässt. Zwar beginnt so gut wie jede Antwort verlässlich mit der Feststellung, dass ausnahmslos alle Politiker Diebe seien. Viele sagen allerdings, dass ihnen der Aktivismus von Y’en a marre zu aggressiv, zu provokativ ist. Andere finden, dass das mit der Demokratiebewegung ja schön und gut sei. Letztlich ginge es aber darum, eine Arbeit zu finden und seine Familie durchzubringen. Die Probleme, gegen die Y’en a marre ankämpft, sind vielen zu abstrakt. Politiker bleiben Verbrecher. In dieser Weltsicht hat man sich eingerichtet. Basta. Auf den Straßen Dakars ist der selbstverantwortliche Bürger, der „Nouveau Type de Sénégalais“ nicht jedermanns Sache.

Dass das Engagement von Y’en a marre tiefer geht als Provokationen und Protest, beweist eine Veranstaltung, zu der die Gruppe Anfang Mai in Dakar eingeladen hat. Im Rahmen des Projekts „Mboka“, was auf Wolof so viel heißt wie „Familie“, wurden zivilgesellschaftliche Organisationen aus dem Senegal und Gambia, das erst 2017 gut 20 Jahre Diktatur hinter sich lassen konnte, an einen Tisch gebracht. Man diskutierte die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Nationen, in denen die Teilnehmer mehr sehen als bloße Nachbarländer. Für sie ist das kleine Gambia, das vom Senegal ganz umschlossen wird, ein Beispiel für den Irrsinn kolonialer Grenzziehungen, die eine Kultur auseinandergerissen und mit den Labeln „anglofon“ (Gambia) und „frankofon“ (Senegal) versehen hat. Für den Dialog machte diese Sprachgrenze keinen Unterschied: Diskutiert wurde auf Wolof, der gemeinsamen Sprache. Und es war deutlich spürbar, dass hier eine junge Generation keine Lust mehr darauf hat, einfach hinzunehmen, was von außen oder von oben diktiert wird. Das gilt für die Grenze zwischen zwei Ländern, die kulturell mehr verbindet als trennt, und auch darüber hinaus. Es gilt für fast alles, was in den afrikanischen Ländern auch Jahrzehnte nach dem Ende der Kolonialzeiten noch von deren Denkweisen und Strukturen zu spüren ist.

Thiat kann zufrieden sein mit den Aktionen der letzten Wochen. Die Mobilisierung für die Wahl 2019 läuft erst an. Ob sie am Ende wieder als Königsmacher dastehen? Ein aussichtsreicher Gegenkandidat der Opposition ist jedenfalls nicht in Sicht. Auf den Titel Königsmacher könnten die Aktivisten von Y’en a marre ohnehin verzichten. Demokratiemacher wäre ihnen lieber.

Valentin Feneberg arbeitet wissenschaftlich zu den Themen Migrations- und Rückkehrpolitik mit einem Schwerpunkt auf Westafrika.

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