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Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundestrainer Joachim Löw sind in einer ähnlichen Lage.

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Merkel, Löw und das WM-Aus: Die Angst vor der großen Leere

Wieder gibt es das Gefühl der Gleichzeitigkeit von sportlicher und politischer Tragödie. Löw und Merkel sind sich ähnlich - vor allem in ihrem Hang zu falscher Besonnenheit.

Denken wir uns eine Geschichte aus, auch wenn sie unvorstellbar erscheint: Angela Merkel und Jogi Löw treffen sich heimlich, besprechen sich und verkünden dann offiziell ihren Rücktritt. Danach spazieren sie erleichtert in die Berliner Abendsonne und genehmigen sich ein kühles Bierchen. Die politischen Krisen müssten nun ohne die Kanzlerin, der Neuaufbau der Nationalmannschaft ohne den Bundestrainer bewältigt werden.

Dann wäre Deutschland…, ja was? Erleichtert, geschockt, verängstigt?

Willy Brandt trat 1974 übrigens ein paar Wochen bevor Deutschland in München Fußball-Weltmeister wurde zurück. Der „Spiegel“-Reporter Hermann Schreiber traf danach einen Mann, über den er schrieb: „Es ist leicht reden dieser Tage mit Willy Brandt, so leicht wie lange nicht […]. Der Schwung des Befreiungsschlags bewegt ihn noch.“ Der Rücktritt war für viele ein Schock, weil sie Brandt verehrten. Doch die SPD regierte, wenn auch mit Verlusten, nach der Bundestagswahl 1976 weiter. Die große Krise – sie war ausgeblieben.

Als am Mittwochabend der Schlusspfiff im russischen Kasan ertönte, die deutschen Spieler traurig zu Boden fielen und Jogi Löw den Kopf senkte, hatte sich ja längst schon dieses nicht völlig unbekannte Gefühl breitgemacht, dass es mal wieder eine Gleichzeitigkeit von politischer und sportlicher Tragödie geben könnte, ja müsste. Wirkten Löws Sprache, die reduzierte Gestik, dieser leicht entrückte Blick nicht längst wie Angela Merkels Stil der demonstrativen Gelassenheit? Und waren nicht damals, Ende der Neunziger, auch Helmut Kohl und Berti Vogts gemeinsam untergegangen, weil sie nicht verstanden hatten, dass die Zeit für sie vorüber war?

Wollen wir wirklich wissen, was Löw denkt?

Jogi Löw sitzt in der Pressekonferenz, als hätte er mit der ganzen Sache nicht wirklich etwas zu tun. Die Augen schauen ins Leere, sie signalisieren, dass da einer eigentlich ganz weit weg ist, die Antworten auf die Fragen wiederum passen nicht zur konzentrierten Körpersprache: „Geschockt“, „enttäuscht“, „selbstherrlich“, sagt er über das historisch frühe Ausscheiden einer deutschen Mannschaft bei einer Fußball-Weltmeisterschaft. Nur was er wirklich denkt und fühlt, erfahren wir natürlich nicht. Erfahren wir auch niemals von der Bundeskanzlerin.

Aber wollten wir das je wirklich? Oder wollen wir einfach nur, dass die Dinge möglichst gut laufen und ansonsten in Ruhe gelassen werden.

2009 sitzt die Kanzlerin mal wieder bei Anne Will im ARD-Fernsehstudio, auch Deutschland ist von der internationalen Finanzkrise betroffen, muss eigene Pläne über den Haufen werfen, die Menschen fürchten aber nun mal Krisen. Will fragt: „Sind sie die richtige für diese Krise?“ Merkel: „Die Krise ist da. Und ich bin als Bundeskanzlerin da…“ Will: „Ja. aber sind sie die richtige, um die Krise zu meistern?“ Merkel lacht: „Joah. Doch“.

Harmonie und Sicherheit first

Es gibt keine Gleichzeitigkeit von Sport und Politik, aber es gibt eine deutsche Mentalität, die wiederum gleichzeitig diejenigen bewegt, die führen und die angeführt werden wollen. Die deutsche Mentalität, die sich nach und aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges entwickelt hat, beruht vor allem auf zwei an sich nicht unvernünftigen Gedanken: Harmonie und Sicherheit first.

Als Angela Merkel eine digitale Bürgersprechstunde einführt, in der Bürger Fragen einreichen dürfen, die dann vom Kanzleramt beantwortet werden, gibt es dazu einen Wahlspot mit der Kanzlerin, in der sie ausführt, was sie politisch tun will, weil: „Deutschland soll so bleiben wie es ist.“

Dieser Satz ist der Refrain, den die Deutschen am allerliebsten singen: Wir mögen keine turbulenten Zeiten, wir wollen nicht ins Ungefähre gehen, wir vermeiden es, zu experimentieren. Wir halten gerne an dem Bewährten fest, auch dann, wenn es längst morsch und brüchig geworden ist. Und wenn es wirklich einmal eine historische Reform gibt, wie die Agenda 2010, sind wir lange beleidigt. Gerhard Schröder wurde abgewählt und Jürgen Klinsmann, der kurz zuvor als Bundestrainer installiert worden war und auf Biegen und Brechen den deutschen Rumpel-Fußball reformieren wollte, wurde bis zur WM 2006, bis zum "Sommermärchen" angefeindet und mit dem größten Misstrauen des Establishments beäugt.

Denn ständig, das gilt für den Fußball wie für andere gesellschaftliche Bereiche, sind wir zudem erfasst von einer lähmenden Abstiegsangst. Es ist einfach nicht möglich, neue, zukunftsweisende Autos zu bauen, es ist nicht möglich, alle Ressourcen sinnvoll in die Bildung zu stecken, Digitalisierung ist noch immer ein mit Angst betrachtetes Projekt. Und diese Angst ist auch der Grund, warum wir sehr lange Kanzlerschaften haben und womöglich auch lange Amtszeiten von Bundestrainern. Merkel und Löw hatten die Chance, in Würde abzutreten. Für Löw ist sie verpasst, für Merkel ist es sehr fraglich.

Die patriarchale Arroganz in Politik und Fußball

Bild aus besseren Zeiten: Merkel im Kreis der Nationalmannschaft nach dem WM-Gewinn 2014
Bild aus besseren Zeiten: Merkel im Kreis der Nationalmannschaft nach dem WM-Gewinn 2014

© dpa

In der  „Zeit“ hat Bernd Ulrich geschrieben, die Kanzlerin habe die Deutschen mit ihrer gutgemeinten Politik „geschichtsunwillig und geschichtsunfähig“ gemacht – sie habe sich sozusagen zwischen die Realität und die Menschen gestellt, damit das Volk möglichst unbehelligt bleibe von den Sorgen und Krisen in der globalen Wirklichkeit. Doch diese Analyse stimmt nicht ganz, man muss sie umkehren: Die Deutschen selbst sind so wie sie sind – und so wählen sie ja auch. Merkel kann man nicht vorwerfen, dass die Deutschen sie im Amt halten, sondern nur, dass sie nichts oder viel zu wenig dafür getan hat, diese Mentalität zu verändern, dass sie vor allem nicht erklärt hat, warum und wie wir uns ändern müssen. Anlässe hätte es genug gegeben, nicht erst seit der Flüchtlingskrise.

Die Politik kennt diese deutsche Charaktereigenschaft natürlich sehr gut. Helmut Kohl kannte sie, Angela Merkel kennt sie. Auch das ist ein Grund dafür, dass Kohl so lange geblieben ist und nicht bemerken wollte, dass er diese Mentalität selbst lebte und verstetigte. Die viel beklagte Saturiertheit, der Vorwurf, es fehle doch an einer Vision, im ganz aktuellen Fall der deutschen Mannschaft an einer Spielidee und an Überzeugung, sie umzusetzen, ist nur das hässliche Spiegelbild der gut gemeinten Überzeugung: Wir haben doch einen guten Job gemacht, wir können den auch weiterhin tun.

Kohl dachte - ich habe doch die Verantwortung!

Es gibt eine wunderbare Szene aus dem Wahlkampf 1998, als Helmut Kohl im RTL-Studio Rede und Antwort steht, die dieses Missverständnis offenlegt. Verantwortung im Kohlschen Sinne hieß immer auch Misstrauen gegenüber den Deutschen und möglichen Nachfolgern. Darin bestand auch ein Teil der Arroganz.

Deutsche fürchten Vakanzen

Ein junger Mann steht auf und fragt: „Ich bin Erstwähler. Aber ich finde, dass die CDU ihre Politik nicht verständlich machen kann. Wieso soll ich sie wählen?“ Kohl verschränkt die Arme um seinen kolossartigen Körper und sagt mit einer unfassbaren Überheblichkeit in der Stimme: „Ja, da haben sie eine Meinung. Aber die stimmt nicht.“

Erst danach wird deutlich, warum Kohl sich so echauffiert, als der junge Mann nachfragt, was der Slogan „Sicherheit statt Risiko“ denn solle und Kohl ihm eine präzise historische Abhandlung über den Kalten Krieg hält. Da wird klar, dass Kohl wirklich glaubt, dass nur er Garant für Frieden und Sicherheit sein könne, Garant dafür, dass Deutschland so bleibt wie es ist. Er dachte, er persönlich schütze die Deutschen. Seine spürbare Arroganz rührte auch daher, dass er meinte, es werde nicht gewürdigt, was er alles im besten Wissen und Gewissen geleistet habe.

Jogi Löw und Angela Merkel ist diese demonstrativ nach außen getragene patriarchale „Arroganz“ völlig fern und fremd. Aber im Innersten handeln sie aus den völlig gleichen Motiven: Aus Sorge, es könnte ohne sie sehr viel schlechter werden, aus Unsicherheit vor dem Neuen. Und: Aus einer völlig verklärten und überhöhten Eigen-Verantwortung, die ehrenhaft ist, aber lähmend.

Löw wollte den Umbruch unbedingt selbst schaffen und einleiten. Er wollte beweisen, dass beides gehen kann - Triumph und Neuaufbau. Verantwortlich dafür sein, dass der Erfolg und das Niveau gehalten werden - das waren seine wichtigsten, ja hehren Motive, als er nach 2014 beschloss, zu bleiben.

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Auch Angela Merkel wollte ihr Land nicht alleine lassen in einer Welt, die so viele Krisen, Kriege und Kompromisslosigkeit erlebt wie schon lange nicht mehr. Sie habe lange mit sich darüber verhandelt, sagte sie 2017 sinngemäß über ihre Entscheidung, ob sie nochmals antreten solle. Was sie nicht sagte: Dass sie es niemand anderem zu diesem Zeitpunkt zugetraut hat, in dieser politischen Weltkonstellation zu übernehmen.

Ist der richtige Zeitpunkt zu gehen dann, wenn völlig klar ist, was folgt? Oder gibt es sowieso nie einen richtigen Zeitpunkt? Richtiger Zeitpunkt würde ja auch bedeuten, dass man Vakanzen ausschließen könnte, also eine riskant wirkende Leere. Offensichtlich ist Vakanz das Schlimmste, was man den Deutschen antun kann. Die Zeit nach der Bundestagswahl hat das sichtbar gemacht: Es war ein unerhörter Vorgang, dass etwa die Jamaika-Koalition nicht zustande gekommen war. Schuld war die FDP. Sie hatte, in den Augen vieler Betrachter, das Land an den Rand von Chaos und Unregierbarkeit geführt.

FDP-Chef Christian Lindner hatte mit seiner Entscheidung, Jamaika platzen zu lassen, der potentiellen, der gefürchteten „Krise“ Raum gegeben. Was aber hätten die Menschen gedacht, wenn Angela Merkel beispielsweise während der Verhandlungen zurückgetreten wäre mit den Worten: „Mit meinem Rücktritt mache ich den Weg frei für eine Reform-Koalition. Für Aufbruch und Neuanfang. Ich bin sicher: Meine Nachfolger können das schaffen!"

Vakanz ist Raum – und diesen Raum brauchen nicht nur die Fußballer, um kreativ zu sein. Nur aus der Leere kann etwas entstehen: Vielleicht eine Krise, vielleicht eine Reform, ja eine Revolution. Der deutsche Fußball ist der Politik an dieser Stelle übrigens weit voraus: Er hat sich tatsächlich neu erfunden, er war bereit, wie Jürgen Klinsmann es 2005 einmal formulierte, beim DFB „keinen Stein mehr auf dem anderen zu lassen“. Dieser Mut hat nicht nur die Talentförderung revolutioniert, sondern letztlich zum Titelgewinn 2014 geführt.

Wenn die eigenen Kräfte nicht mehr reichen

Diesen freien Raum überhaupt zuzulassen, um ihn neu zu erobern oder auszufüllen, ist selbst schon Ausdruck eines Willens zur Kreativität; zur Bereitschaft, Krisen nicht zu fürchten, sie aber auch nicht kleinzureden mit der Intention, die Menschen oder die Fans zu beruhigen. Diese Art der einschläfernden Beruhigungspolitik beherrschen Löw und Merkel allerdings perfekt. Es ist ihre Schwäche und ihre Stärke zugleich. Stärke ist es, wenn sie auf Besonnenheit basiert und mit eigenen Taten und transparenten, verständlichen Erklärungen über die tatsächliche Lage einhergehen. Schwäche wird es dann, wenn die eigenen Fähigkeiten, die eigene Überzeugung, die eigenen Kräfte überschätzt werden und sie nicht mehr ausreichen, um die Dinge zu lenken.

Und nun? Nun wird es weitergehen!

Als Anne Will Angela Merkel 2009 fragte, ob sie „nur beliebt, aber dafür politisch unkenntlich“ sein wolle, antwortete die: „Das ist wirklich Quatsch. Das eine ist die Historie, daran wird man sich eines Tages erinnern. Aber jetzt ist jetzt. Und nun lösen wir erst einmal die Probleme, eines nach dem anderen.“

Es wird nicht immer alles gut.

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