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Merkel besucht die Hochwassergebiete: Wahlkampf mit nassen Füßen

Im Helikopter reist Angela Merkel von einem Flutgebiet ins nächste. Sie spricht den Betroffenen Mut zu – und verspricht Geld. Und sie bekommt dafür Bilder, die noch in keinem Wahlkampf geschadet haben.

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Als Angela Merkel kommt, hat das „Weiße Roß“ noch offen. Was die Bundeskanzlerin an diesem Dienstag natürlich nicht interessiert. Sie ist nur für einige Minuten mit dem Hubschrauber in die sächsische Stadt Pirna eingeflogen. Doch dazu später.

Das „Weiße Roß“ in der Altstadt ist Pirnas „ältestes Gasthaus“, wie ein Werbeplakat verspricht. Und sein Betreiber muss ein Mann mit Galgenhumor sein. Denn auf diesem Plakat steht, das Weiße Roß habe „noch geöffnet“. An diesem Dienstagmittag um zwölf Uhr ist das Gasthaus damit eine Ausnahme. Seit dem frühen Morgen flutet das Wasser der Elbe unaufhörlich durch die Straßen der Stadt. Es ist kalt und braun, und der Pegel steigt gefährlich schnell. Die meisten Einzelhändler in der Altstadt von Pirna haben ihre Geschäfte dicht gemacht und sind weg.

Dass an diesem Tag nicht nur das Wasser, sondern auch Frau Merkel nach Pirna kommt, wussten die Leute am Morgen noch nicht. Merkel hatte erst am Tag zuvor beschlossen, sich vor Ort umzusehen. Und erst am Abend war klar: Sie wird zunächst mit dem Hubschrauber von Berlin nach Passau fliegen. Weil dort das Wasser so hoch steht wie seit dem Mittelalter nicht mehr? Vielleicht. Wahrscheinlicher aber, weil in fünf Monaten neben der Bundestagswahl auch Landtagswahlen in Bayern sind. Wer sich nicht als aktiver und interessierter Helfer in der Flutnot erweist, wird nicht gewählt, heißt einer der Lehrsätze in der Politik.

Kurz nach neun Uhr morgens landet Merkel in Passau. Horst Seehofer, der CSU-Chef, hat eine rot-weiße Funktionsjacke an, sieht aus wie ein Sanitäter und verspricht den Passauern Hilfe. Da kann die Kanzlerin nicht nachstehen. Es dauert eine Stunde, bis sie den Betroffenen in allen Flutgebieten „schnelle und unbürokratische“ Hilfe des Bundes in Aussicht stellt. 100 Millionen Euro soll es gleich geben. Aber die betroffenen Landesregierungen sollen sich mit der jeweils gleichen Summe beteiligen. Bayern, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt: Überall sind Unionspolitiker an der Regierungsspitze, Merkel ist auch von der CDU. Das mit der Unbürokratie wird funktionieren und nicht im Parteiengezänk zerrieben werden, hoffen die Leute.

Als es sich in Pirna herumspricht, dass Merkel dort mittags landen will, machen sich die Leute auf den Weg zur Elbe. Ältere Damen, junge Männer mit Bierflaschen in der Hand, Schüler – bewaffnet mit Handys. Jeder, der nicht einen Laden ausräumen muss oder auswärts arbeitet, scheint die Regierungschefin sehen zu wollen. Als sie mit einer Stunde Verspätung endlich eintrifft, strömen die Menschen in Scharen auf sie zu. Gedrängel, wie bei einem Popstar, Merkels Sicherheitsleute haben alle Hände voll zu tun. Zwei Mädchen, 14 oder 15 vielleicht, fangen an wie wild zu kreischen. Merkel hat ihnen beim Vorübereilen die Hand gegeben und „alles Gute“ gewünscht. Nun quieken sie: „Hey, sie hat mir die Hand gegeben.“

Die Kanzlerin ist sehr ernst, als sie in Pirna ankommt. Sie weiß, dass man von ihr Hilfe erwartet und keinen Wahlkampfklamauk. Merkel hat ihr rotes Bürosakko an und eine unauffällige blaue Regenjacke. Gummistiefel? Fehlanzeige. Die Regierungschefin trägt braune feste Wanderschuhe, sie steht damit auch im Flutwasser und dirigiert professionell eine Horde Fotografen und Kameraleute. „Hierher“ und „dahin“ sagt sie und alle gehorchen sofort. Auch ein junger Mann im grauen T-Shirt fragt, ob er sie mal fotografieren darf. „Na“, sagt Merkel, „dann drücken Sie mal drauf.“

Vom Bürgermeister der kleinen Stadt Pirna, südlich von Dresden, hat sich Merkel zuvor schon genau erklären lassen, wo die Einwohner Sandsäcke bekommen und befüllen können, ob die Hilfe des Technischen Hilfswerks ausreicht und wann das Hochwasser den höchsten Punkt erreicht haben wird. Es waren bei diesen Gesprächen keine Journalisten und keine Zuschauer dabei. Dafür Innenminister Hans-Peter Friedrich und Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich. „Wir werden Sie nicht alleine lassen“, verspricht Merkel später den Menschen in Pirna. Jetzt soll es erst einmal die millionenschwere Soforthilfe geben. Später müsse dann das wahre Ausmaß der Schäden bewertet werden, sagt sie und verspricht weitere Unterstützung.

Bei der Oderflut erwarb sich der Platzeck den Ehrentitel "Deichgraf"

Es ist übrigens unmöglich, bei der Kanzlerin in der Hochwasserzone nicht sofort an jenen anderen zu denken, den Mann, dem eine Flut den Weg zum Wahlsieg bahnte. Der Tag, der Gerhard Schröder rettete, war regnerisch und trübe wie die Tage davor. An jenem 14. August 2002 marschierte der Bundeskanzler durch das, was einmal Straßen des sächsischen Grimma gewesen waren, bis das Flüsschen Mulde sie mit seiner trüben Brühe überflutet hatte. Es sah nicht gut aus für Schröder. Seine rot-grüne Koalition – das Gespött der Saison, von Panne zu Panne gestolpert. Er selbst – in den Umfragen abgeschlagen hinter diesem Bayern, dem die Leute jedenfalls zutrauten, dass er das Regierungshandwerk beherrscht.

Schröder stapfte durch Grimma in grünem Regenmantel, den gelb gestiefelten CDU-Ministerpräsidenten Georg Milbradt an der Seite. Er sah in die Gesichter, er hörte Menschen von ihrer Not berichten. Und abends im Fernsehen sah die ganze Nation einen Kanzler, der in schwarzen Gummistiefeln auf die Fluten blickte und dabei eine derart betroffene Miene zeigte, dass sie gar nicht gespielt sein konnte.

Edmund Stoiber sah die Bilder auch. Er saß auf Juist. Die Stoibers machten da seit Jahren Urlaub, meist gemeinsam mit zwei befreundeten Ehepaaren. Und Karin hatte gesagt, Wahlkampf hin oder her, diesmal bist du zum Geburtstag von X. da! Da hat er seiner Frau den Gefallen getan und bloß schriftlich mitteilen lassen, dass er die Nöte der Menschen nicht zu Wahlkampfzwecken ausnutzen wolle. Als er dann doch zur Flut flog, war es zu spät – zumal er erst nur in Passau war, dann zurück nach Juist, dann doch noch in den Osten. Viel zu spät, weil er auf einmal wieder nur der kühle Verwaltungsbürokrat war und der andere der Menschenversteher. Schröder in Gummistiefeln – das war der Anfang der Erfolgsgeschichte, die mit dem Nein zum Irak-Krieg ihren Durchbruch feierte.

Ach ja, noch einer saß damals trocken. Guido Westerwelle kurvte im Guidomobil irgendwo auf der Höhe von Neustadt am Rübenberge durch die Republik. Zwischen zwei Auftritten hat er ausgerechnet, wie viel Geld die FDP wohl für die große Flutopfer-Hilfsgala am Abend im Fernsehen ausgeben kann. Erst ein paar Tage später hat der FDP-Chef das gelbe Spaßmobil in die Garage geschickt.

Auch die Karriere von Matthias Platzeck entschied sich an den Ufern der Oder. Bei der Flut 1997 erwarb sich der damals parteilose Umweltminister und jetzige Ministerpräsident Brandenburgs den Beinamen „Deichgraf“. Im Kabinett Manfred Stolpes war er der Mann, der die Sicherung der Deiche organisierte, in Jeans und Gummistiefeln vor Kameras Auskunft gab. Platzeck sah aus, als packe er mit an, schleppe die Sandsäcke selbst. Das kam gut an. Am besten aber funktionierte die Heldenwerdung sicher Jahrzehnte zuvor – bei Helmut Schmidt.

Im Ausnahmezustand bleibt Helmut Schmidt souverän.

Es ist dunkel in der Nacht auf den 17. Februar 1962. Ein Orkantief fegt mit Windgeschwindigkeiten von 132 Stundenkilometern über Norddeutschland hinweg. Die Nordsee drückt in Elbe und Weser. In Hamburg brechen am südlichen Flussufer die Deiche. Die Stadtteile Wilhelmsburg, Finkenwerder, Moorfleet und Billwerder versinken in meterhohen Fluten. Als Schmidt, Hamburgs neuer Innensenator, zu Bett geht, weiß er nichts von dem Drama. Er ist den Tag über in Berlin gewesen, und seine Behörde hat ihn nicht unterrichtet.

Erst am Morgen läutet das Telefon. Schmidts Dienstwagen wartet vor der Tür, er rast in sein Ministerium. Dort herrscht hellste Aufregung, keiner hat einen Überblick. Um sich den selbst zu verschaffen, lässt sich der 43-Jährige mit einem Hubschrauber über die Elbe fliegen. Danach handelt er. Es ist die Erfindung von etwas, das es in einem demokratischen Gemeinwesen eigentlich nicht mehr geben sollte: der Politiker als Feldherr. Schmidt ist in diesem Moment ein solcher. Legendär die militärische Strenge, mit der er bei Lagebesprechungen jenen Behördenleitern das Wort entzieht, die „den Laden aufhielten“, wie er später sagen wird.

Auch denkt er: Was kümmern mich Gesetze. So kommt die Bundeswehr an den gebrochenen Dämmen und mit ihren fliegenden Hilfsstaffeln und Booten zum Einsatz, obwohl deren Verwendung im Inland vom Grundgesetz verboten ist. Jedem Flutopfer lässt er 50 Mark Handgeld auszahlen, selbst für die Aufbewahrung der zahlreichen Toten fällt seinem Krisenstab eine Idee ein: die Leichen werden auf einer Eislaufbahn gelagert.

Bilder von Schmidt, damals noch mit dunklem Haar und steilem Seitenscheitel, gibt es nur wenige. Und sie zeigen den künftigen Kanzler nie an Deichen. Sondern vor Schautafeln im Lagezentrum und bei Besprechungen. „Herr Mohr, an die Karte“, ist eine gern zitierte Redewendung von ihm damals. Sie entspringt nicht mehr der Sprache eines Politikers, der Umverteilungskämpfe führt. „Herr Philipp, wie lange brauchen Sie? Ich erwarte Vollzugsmeldung.“

Dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier Schmidt fällt es leicht, so zu reden. Da es ihm in diesen Tagen des Winters 1962 um Menschenleben geht, lässt er seine Hemmungen diesbezüglich fallen. Aber er erliegt nicht der Versuchung, aus der Machtfülle des Augenblicks einen autoritären Anspruch abzuleiten. Im Ausnahmezustand, in dem sich Hamburg befindet, bleibt er souverän.

Politik ist die Kunst, der Situation eine Bedeutung zu geben. Männliche Politiker auf Deichen beschwören das Bild einer bedrohten Gemeinschaft, der sie neuen Schutz versprechen. Kanzlerin Merkel steht an diesem Tag auf keinem Deich.

In Pirna bleibt sie noch bei drei oder vier Leuten stehen, wünscht „Alles Gute“, fragt, „wie geht’s“, oder sagt einfach nur „Hallo“. Dann reißt ihr Fahrer die Autotür auf, Merkel verschwindet hinter einer dunklen Scheibe, und man sieht nur noch schemenhaft, wie sie die Hand zum Abschiedsgruß hebt. 15, vielleicht 16 Minuten, war die Bundeskanzlerin an der Elbe. Sie muss weiter, der Hubschrauber wartet, Greiz in Thüringen steht noch auf ihrem Plan für den Nachmittag.

Einen „Eindruck“ wolle sie sich verschaffen von der Flut, hatte ihr Sprecher tags zuvor die rasche Reise begründet. In Pirna hat sie den wahrscheinlich gewinnen können. Leer geräumte Läden, verbarrikadiert mit Sandsäcken und Holzplatten, im Hintergrund jaulen unaufhörlich die Sirenen der Rettungsautos, die Rentner und Kranke in andere Ortschaften oder höher gelegene Stadtteile bringen. „Nehmen Sie Ihre Wertsachen und eine Decke“, ruft es seit dem Morgen regelmäßig aus einem Polizeifahrzeug, „und begeben Sie sich in die vorgesehenen Unterkünfte.“

Dorthin wird auch Sonja Knöfel bald gehen. Sie betreibt das „Café Canaletto“ am Marktplatz, in dem nur noch die Kuchenvitrine steht. Die ist eingebaut, sie wird überspült werden und nicht zu retten sein. Doch Sonja Knöfel ist nicht so mutlos, wie man erwarten könnte. Sie hat schon einmal, vor zehn Jahren, ihren Laden nach der Flut wieder aufgebaut. Und eine Versicherung hat sie jetzt auch. „Ich habe mir damals selbst geholfen“, sagt Knöfel. Das mache sie nun wieder.

Es sei „doch immer so“, sagt sie: „Wenn uns das Wasser an den Knien steht, dann kommen die Politiker und versprechen uns Hilfen.“ Wenn das Wasser dann weg sei, kämen „die Bürokraten“, und aus der schnellen Hilfe werde ein Papierberg mit Bedingungen und Fallstricken, die nur wenige akzeptieren wollen.

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