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Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem ersten großen Auftritt zur Corona-Krise.

© REUTERS

Merkel äußert sich zu Corona-Krise: „Unser Herz wird auf die Probe gestellt“

Nach langem Abwarten macht die Kanzlerin die Coronavirus-Epidemie zur Chefsache. Ihre Botschaft: Die Situation ist unberechenbarer als die Finanzkrise.

Die Kanzlerin hält Abstand zu den Fotografen, sie tritt an diesem Mittwoch auf dem Podium der Bundespressekonferenz etwas zurück. In Zeiten von Corona, wo auch das Händeschütteln zur Ausnahme wird, rät sie, stattdessen mal „eine Sekunde länger in die Augen schauen und lächeln“.

Angela Merkel ist spät dran, die "Bild"-Zeitung titelte am Mittwoch: "Kein Auftritt, keine Rede, keine Führung in der Krise: Die Kanzlerin und das Corona-Chaos."

Zuvor hatte sie am Dienstagnachmittag in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter Verweis auf Virologen gesagt, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem gefährlichen Virus infizieren könnten.

Information hinter verschlossener Tür

Solche Informationen hinter verschlossenen Türen sind Nachrichten, die die Bevölkerung eher verunsichern als beruhigen. Sie können dazu führen, dass Fatalismus um sich greift. Warum sich einschränken im öffentlichen Leben, wenn man sich ohnehin infizieren wird. Aber es sind nun mal die Zahlen, die Virologen nennen.

Am Mittwochmorgen ist die Politik der verschlossenen Türen dann vorbei. Um 8.44 Uhr kommt überraschend die Einladung zu einer kurzfristigen Pressekonferenz mit Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn und dem Leiter des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler. Das zeigt: Die Lage ist ernst – und Merkel macht die Krise jetzt zur Chefsache.

Erste EU-Videokonferenz

Sie ist gut im Stoff, betont aber, hier seien nicht die Politiker die Experten, sondern die Mediziner. Am Abend zuvor fand wegen Corona die erste Videokonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs statt. Merkel begründet ihren Auftritt damit, sie wolle über die Ergebnisse informieren. So plant die EU unter anderem ein 25-Milliarden-Investitionspaket.

Merkel weist den Vorwurf zurück, sie habe sich zu lange zurückgehalten. "Der Gesundheitsminister weiß, dass ich mich nicht erst seit heute darum kümmere", sagt sie. Am Donnerstag hat sie die Ministerpräsidenten der Länder zu Gast und nach der Ausweitung des Kurzarbeitergeldes soll es auch rasch Liquiditätshilfen für betroffene Unternehmen geben.

Corona ist Neuland

Für alle ist das Neuland. Merkel agiert besonnen, sie betont, dass ein Erfolg im Kampf gegen die Ausbreitung auch von den Bürgern abhänge, sie beschönigt nichts. "Es ist nicht egal was wir tun, es ist nicht vergeblich", sagt sie. Auf Fußballspiele mit Zuschauern zu verzichten, ist für sie das kleinere Übel. Als sie ihre rechte Hand hebt, gibt es ein lautes Klicken der Kameras. Es wirkt fast symbolisch: Merkel versucht sich an einer Politik der ruhigen Hand.

Das ist wieder so eine Krise, die überraschend kam und in der die Bundesregierung die Dimension nicht sofort erkannt und zunächst zögerlich reagiert hat. Ob die Maßnahmen jetzt reichen oder zu spät kommen, werden die Fall- und Todeszahlen zeigen.

Finanzkrise war berechenbarer

Bei der Finanzkrise ließen sich Kreditrisiken und notwendige Finanzhilfen klar berechnen. Das ist hier anders. "Wir müssen mit viel mehr Unbekannten agieren", erklärt Merkel. Wie breitet sich das Virus aus, wie Temperaturabhängig ist die Infektionsrate, verringert sich die Ansteckung bei wärmeren Wetter? "Wir sind in einer Situation, in der wir vieles noch nicht wissen."

2008 musste man vor allem großen Dax-Konzernen helfen, nun trifft es als erstes sofort auch viele kleinere Unternehmen: Hotels, Gaststätten, den Messe- und Tourismusbereich. Lieferketten reißen, auch der Bund tut sich schwer, noch Schutzbekleidung und Desinfektionsmittel zu bekommen. Das wirtschaftliche System sei ein "fragiles Konstrukt", sagt Merkel.

Wer haftet für Absagen?

Es tauchen reihenweise Probleme auf, zum Beispiel die Haftungsfragen für abgesagte Veranstaltungen. Die Gesetzeslage ist nicht klar, Merkel hat Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) gebeten, sich zu kümmern. Es gebe mehr "Unklarheiten, als man denkt". Gleiches gilt für den föderalen Flickenteppich, wer welche Veranstaltungen absagt.

Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn versuche den Eindruck zu zerstreuen, sie würden nicht gut zusammenarbeiten.
Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn versuche den Eindruck zu zerstreuen, sie würden nicht gut zusammenarbeiten.

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Mit Blick auf Hamsterkäufe bei Klopapier, Nudeln und Konserven, den Diebstahl von Infektionsmitteln aus Krankenhäusern, mahnt Merkel zum Miteinander. Letztlich müssten 83 Millionen Menschen die Situation gemeinsam meistern. Das Einkaufsverhalten einiger Bürger finde sie bedenklich. „Da sind unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander schon auf eine Probe gestellt“, betont die Kanzlerin. Sie wünsche sich, „dass wir diese Probe auch bestehen“.

Die Bundeskanzlerin wiederholt nun auch öffentlich die Zahl von 60 bis 70 Prozent, die sich infizieren könnten, wenn man nichts tue. Ihre zentrale Botschaft: Zeit gewinnen, durch die Absage aller größeren Veranstaltungen. Das diene alles dem Schutz besonders gefährdeter älterer Menschen.

Krise kann vielleicht Jahre dauern

RKI-Chef Wieler betont, die Corona-Ausbreitung könne Monate dauern, „vielleicht auch Jahre“. Der Wissenschaftler meint, auch in China könne es nach dem jüngsten Rückgang wieder zu einer neuen Welle kommen. „Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, daher ist es so wichtig, Zeit für die Impfstoffgewinnung zu bekommen.“ Ohne die aktuellen Einschränkungen könnte der Zusammenbruch des Gesundheitssystems drohen.

Pressekonferenz zum Coronavirus. RKI-Chef Lothar H Wieler, Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzlerin Angela Merkel.
Pressekonferenz zum Coronavirus. RKI-Chef Lothar H Wieler, Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzlerin Angela Merkel.

© imago images/photothek

Die Krankenhäuser müssten sich vorbereiten auf viele Patienten mit schweren Atemwegserkrankungen und Lungenentzündungen. 28000 Intensivbetten gibt es in Deutschland. Merkel dankt den Ärzten, Krankenschwestern, Pflegern, Landräten und Bürgermeistern für ihren Einsatz: "Ein Riesen-Dankeschön." Sie äußert auch ihr tiefes Mitgefühl für die vielen Corona-Opfer in Italien.

Es gibt nicht wie in der Flüchtlingskrise ein "Wir schaffen das", sondern jetzt heißt die Botschaft: "Wir werden das Notwendige tun." Medizinisch wie ökonomisch. In dieser Krise fährt man nicht einmal auf Sicht. "Wir sind (...) am Anfang einer Entwicklung, die wir noch nicht genau voraussehen können." Sie wolle daher den Blick weiten "für die Herausforderungen vor denen wir stehen".

Corona auch im Bundestag

Zum Problem könnte noch werden, dass rasch Gesetze und Beschlüsse für Finanzhilfen getroffen werden müssen. Doch das Coronavirus hat inzwischen auch den Bundestag erreicht. Am 2.März fand eine Sitzung der AG Recht der SPD-Fraktion statt, an der eine nun auf das Coronavirus positiv getestete Person aus dem Bundesjustizministerium teilgenommen hat. Mehrere Abgeordnete haben sich nun vorsichtshalber in Quarantäne begeben, darunter auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.

Merkel und Spahn bestreiten Konflikte

Gesundheitsminister Jens Spahn betont, dass das Coronavirus auch empfindlich ist. "Das Virus ist alkoholsensibel." Es verträgt ihn nicht. Bei 80 Prozent der Infizierten verlaufe die Erkrankung milde, beruhigt Spahn. Er hat Merkel in der Flüchtlingsfrage oft kritisiert, nun versuchen beide ein Vorurteil zu entkräften. Merkel findet die Annahme "relativ kühn und meinem Wesen fremd", dass sie nicht mit Spahn gut zusammenarbeiten könne, nur weil sie mal unterschiedliche Meinungen hätten. "Ich finde, dass Jens Spahn einen wirklich tollen Job macht." Beide wissen: In Zeiten von Corona braucht es gerade an der Spitze demonstrative Einigkeit. Denn die Prüfung, von der die Kanzlerin spricht – sie beginnt erst.

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