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Demonstranten in Berlin halten palästinensische Fahnen hoch, während sie "Free Free Palestine" rufen.

© Annette Riedl/dpa

Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Es gibt kein Unauffälligkeitsgebot für Migranten

Einwanderung ist kein Gnadenakt. Wer in Deutschland lebt, darf demonstrieren und sich politisch organisieren. Das nennt sich Partizipation. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Vielfalt verursacht vielfältige Probleme. Wer eine Einwanderungsgesellschaft bejaht, muss sich mit ihren Folgen arrangieren. Eine dieser Folgen besteht darin, dass Konflikte in aller Welt einen heimischen Resonanzboden finden. Das Ferne rückt nahe, manchmal sehr nahe.

In New York protestieren jüdisch- und indischstämmige Amerikaner gemeinsam gegen islamistischen Terror in Nahost. Die einen meinen die Hamas, die anderen die Taliban und Rebellen in Kaschmir. In Berlin ziehen aserbaidschanische und türkische Demonstranten vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor und rufen Parolen gegen „die armenische Aggression“. Wenige Tage zuvor hatten in Deutschland lebende Armenier die „türkisch-aserbaidschanischen Angriffe“ verdammt und ein „Ende der Expansion autoritärer Regime“ gefordert.

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Palästinenser demonstrieren für einen Staat Palästina. Muslime in Großbritannien fühlen sich durch Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung verletzt. In der Schweiz lebende Tibeter gehen für den Dalai Lama auf die Straße. So weit, so normal.

So lange es friedlich bleibt, ist nichts daran auszusetzen

Mit der Einwanderung nämlich hören die religiösen, kulturellen und ethnischen Bindungen zur alten Heimat nicht notwendigerweise auf. Es kommt vor, dass sie mit der Entfernung sogar stärker werden. Was zwischen Indien und Pakistan geschieht, findet seinen Widerhall in britischen Städten. Was im Nahen Osten geschieht, wird auch auf den Straßen von Brooklyn ausgetragen.

So lange es friedlich bleibt und keiner gegen Gesetze verstößt, ist nichts daran auszusetzen. Migranten dürfen sich ebenso politisch organisieren wie Einheimische. Sie dürfen Parteien bilden, Spendengelder eintreiben, sich versammeln und demonstrieren. Je vielfältiger die Migration, desto zahlreicher können die Anlässe werden.

Sich zu empören über einen Import von Konflikten, die nicht „zu uns“ gehören, ist falsch und zeugt von der Unfähigkeit – oder dem Unwillen -, auch diese Folgen von Migration zu akzeptieren. Die Konflikte gehören „zu uns“ in dem Maße wie die Menschen, die „mit uns“ leben und sich „auf unseren Straßen“, die ja auch ihre Straßen sind, dazu Gehör verschaffen wollen. Migration ist kein Gnadenakt, der mit einem Unauffälligkeitsgebot verknüpft ist.

Nicht alles, was widerwärtig klingt, ist verboten

In den USA ist das selbstverständlich. Dort kann kaum jemand Präsident werden, der nicht die irische, „grüne“ Lobby in Washington D.C. umgarnt und im Wahlkampf nicht mindestens einmal nach Irland gereist ist. Ob Richard Nixon oder Ronald Reagan, Vater oder Sohn Bush, Barack Obama oder Joe Biden: Sie alle haben auf ihre „irischen Wurzeln“ hingewiesen, um sich das politische Wohlwollen jener 35 Millionen Amerikaner zu sichern, die ebenfalls von sich sagen, irischer Abstammung zu sein. In der Vergangenheit haben sie von Amerika aus den Unabhängigkeitskampf gegen die Briten unterstützt. Als Machtfaktor beeinflussen sie heute etwa die Haltung der US-Regierung zum Brexit und zum Karfreitagsabkommen.

Volksverhetzung, Beleidigung, Holocaust-Leugnung, Aufrufe zur Gewalt: Das ist in Deutschland verboten und sollte ausnahmslos geahndet werden. Weder gibt es mildernde Umstände durch „den Schutz der Straße“ noch durch ideologische Prägungen. Konsens sollte es ebenfalls sein, jede Form von Antisemitismus zu verurteilen.

Aber nicht jede Äußerung, die in deutschen Ohren widerwärtig, unerträglich, radikal oder einseitig klingt, verstößt gegen das Recht auf Meinungsfreiheit. Das scheinen selbst juristisch Versierte manchmal zu vergessen. „Wer sich in seinem Protest nicht eindeutig davon abgrenzt, wenn das Existenzrecht Israels angegriffen wird“, mahnte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, „macht sich mitschuldig.“

Die Zweistaatenlösung des Konflikts ist in ewig weite Ferne gerückt

Das Existenzrecht Israels sei Teil der deutschen Staatsräson und nicht verhandelbar, sagte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das sind klare, selbstverpflichtende Sätze, die im Bundestag eine breite Mehrheit finden. Aber es schwingt in ihnen auch eine Drohung mit: Wer solche Bekenntnisse nicht teilt, schließt sich aus der deutschen Diskursgemeinschaft aus, wird verstoßen, macht sich schuldig.

Nur Fanatiker und Toren bestreiten, dass Juden – wie die meisten anderen Völker – das Recht auf einen eigenen Staat haben. Aber Fanatiker und Toren haben auch das Recht, Fanatiker und Toren zu sein. Man darf in Deutschland das Existenzrecht Israels in Frage stellen, zumal die Sache durch die aktuellen Entwicklungen eher komplizierter als einfacher wird.

Das Existenzrecht Israels als Teil der deutschen Staatsräson

Denn die oft eingeklagte Zweistaatenlösung des Konflikts ist in ewig weite Ferne gerückt. Diskutiert wird stattdessen die binationale Einstaatenlösung. Ein Staat für zwei Völker, von den Golanhöhen bis nach Eilat, vom Jordan bis ans Mittelmeer. Dadurch allerdings würde sich der Charakter Israels als ein in großer Mehrheit jüdischer Staat gravierend verändern. Eine solche „One-state-reality“, in der Juden aufgrund der demographischen Entwicklung eine Minderheit sein könnten, hielt im April 2016 auch der damalige US-Vizepräsident Joe Biden für die wahrscheinlichste Lösung.

Das Existenzrecht Israels als Teil der deutschen Staatsräson: Das klingt geschichts- und verantwortungsbewusst. Aber welches Israel ist gemeint? Darüber darf gestritten werden.

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