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Mark Zuckerberg will etwas "reparieren" an seinem Netzwerk. Fraglich ist, ob er die Schäden richtig einschätzt.

© AFP / Mandel Ngan

Meinungen im Netz: Freiheit kann ein Fehler sein

Netzwerke wie Facebook oder Bewertungsportale wie "Jameda" für Ärzte bilden eine Öffentlichkeit mit eigenen Regeln und Motiven. Ihr Dienst am Gemeinwohl könnte überschätzt werden. Eine Analyse.

Noch nie in seiner jungen Geschichte war das weltgrößte Online-Kommunikationsnetzwerk Facebook so weit unten. Gründer Mark Zuckerberg, einst Tech-Messias mit Badelatschen und Heilsbotschaft, zieht heute im Büßerhemd durch seine Community. Zu viel Hass, zu viele Falschnachrichten, Kampagnen, Shitstorms und Geheimdienst-Infiltrationen. Vieles, das er „reparieren“ wolle, wie er sagt. Marktforscher melden, dass Facebook in den USA knapp drei Millionen Nutzer aus der wichtigen Zielgruppe unter 25 Jahren verloren hat; Brasiliens größte Zeitung kündigt gerade ihren Rückzug von der Plattform an, und die EU-Kommission dringt auf Datenschutz.

Der Chef der Großgemeinschaft mit ihren zwei Milliarden Accounts verglich die Herausforderungen mit denen der Finanzkrise und redet sie damit wohl kleiner, als sie sind. Anders als ein anderer digitaler Champion, die Apple Inc. aus Cupertino, kann Facebook schlecht Innovationen bieten. Schließlich bestimmen die Nutzer den Inhalt, von denen eher wenig Neues und im Zweifel mehr vom Gleichen zu erwarten ist. Zuckerberg hat dafür seinen Algorithmus, an dem er schrauben will: weniger Medien-Content, mehr Stoff von Freunden und Familie. Er will Leute binden. Reichweite zählt, der Rest ist Marketing und Image. Vor allem Letzteres ist in der Krise.

Möglich, dass Wachstum und Expansion deshalb vor allem noch in Ländern zu erwarten sind, in denen die Menschen wenig Geld und noch weniger Alternativen haben; im verwöhnten Europa mit seiner nach wie vor bestehenden Medienvielfalt und zahlungskräftigen Konsumenten macht sich Überdruss bemerkbar. Hinzu kommt die wachsende politische Dimension. Facebook gilt als Paradefall einer digital strukturierten Öffentlichkeit. Am Beispiel des Netzwerks ist abzulesen, wie die sich entwickelt.

Persönliche Entfaltung ist die eine Seite. Macht und Geld die andere

Eine Entwicklung mit weiterhin beachtenswerter Dynamik. „Das Internet ist für uns alle Neuland“, hatte Kanzlerin Merkel vor vier Jahren festgestellt und wurde dafür herzlich verlacht. Der zweite Teil ihres Satzes, in dem sie vor Demokratiefeinden warnte, die mit Aktivitäten im Netz „unsere Art zu leben in Gefahr bringen“, wurde überhört. Zuckerberg ist mit seiner Selbstkritik heute dort angekommen, wo Merkel damals war, bei Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Evolution. Weltbeglückung war seit jeher sein Nebenprojekt. Es geht ums Geschäft. Auch jetzt, bei der strategischen Artikulation von Zweifeln daran.

Ein Urteil des Bundesgerichtshofs an diesem Dienstag wird die beschriebene Ambivalenz noch deutlicher zutage treten lassen. Die Freiheit von Meinung, Diskurs und persönlicher Entfaltung ist die eine Seite. Macht, Geld und Interessen bilden die andere. Dem Urteil wird grundsätzliche Bedeutung zumindest für Bewertungsportale im Internet zugemessen, doch es könnte noch weitergehen: ein Schritt auf dem Neuland, der in eine neue Richtung weist.

Der Rechtsstreit dreht sich um die Ärzte-Benotung bei „Jameda“. Die Burda-Tochter verzeichnet in ihrem Portal mehr als sechs Millionen Visiten potenzieller Patienten, die sich dort über mehr als eine Viertelmillion Ärztinnen und Ärzte schlau machen können. Der Clou sind die häufig anonymen Voten. Prima Doktor, sehr kompetent und einfühlsam, schreiben die einen. Keine Ahnung, fühlte mich falsch behandelt, urteilen die anderen. Im Ergebnis hagelt es Sternchen. Ein Prinzip, mit dem nicht nur Anbieter und Dienstleister aus dem Wirtschaftssektor leben müssen, sondern auch Rechtsanwälte, Professoren und Lehrer.

Die Ärztin, die nicht mitmachen will, hat einen schweren Stand

Eine Kölner Dermatologin will nicht mehr mitmachen und sich dem virtuellen Katalog samt Zensuren entziehen. „Jameda“ steht in dem Streit ein Grundrecht zur Seite, dem das höchste Gericht der Republik, das Bundesverfassungsgericht, eine herausragende Position zumisst: die von Artikel 5 des Grundgesetzes geschützte Meinungsfreiheit. In den Worten des Gerichts der „unmittelbarste Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft, eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt“. Neben dem Wert für den Einzelnen eine Freiheit, die „für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend“ sei. Ohne Ärztebenotung im Netz also keine echte Demokratie? Jedenfalls hat die Ärztin einen schweren Stand. Seit den Rechtsstreitigkeiten um Lehrerzensuren auf dem mittlerweile eingestellten Portal „Spickmich“ genießen Netzfirmen grundsätzlich die Freiheit, Daten von Dienstleistern aller Art zu aggregieren und ihren Nutzern zur Diskussion zu überlassen. Auch Verbraucherschutz und Verbraucherinformation spielen eine Rolle, die „Jameda“ dankbar ausfüllt. Das Portal beschreibt sich als Vorkämpfer einer aufgeklärten Patientenschaft, der im Namen des Gemeinwohls um Transparenz bemüht ist.

"Jameda" errichtet eine medizinische Zweiklassengesellschaft

Vor zwei Jahren schon hatte die große Freiheit eine kleine Fessel angelegt bekommen. Die Bundesrichter entschieden, dass „Jameda“ Ärzten behilflich sein muss, wenn sich diese gegen Falschbehauptungen von Nutzern zu Wehr setzen wollen, unter Wie große Freiheit eine kleine Fessel angelegt bekommeahrung von deren Anonymität. Gleichzeitig hieß es aber auch, dass den Portalen keine Prüfpflichten auferlegt werden dürfe, die ihr Geschäftsmodell gefährden könnten.

Sollten sich Ärzte dem Portal entziehen können, wäre das Geschäftsmodell nicht nur gefährdet. Es wäre womöglich erledigt. Deshalb ist ein solches Urteil unwahrscheinlich. Die Vorinstanzen hatten die Klägerin abgewiesen. Andererseits muss man sich den Marktplatz näher betrachten, auf dem „Jameda“ die Meinungsfreiheit preist. Ärzte, die zugleich zahlende Kunden des Portals sind, bekommen ein hübsches Porträt samt Werbetext. Nichtkunden ein graues Piktogramm. Eine medizinische Zweiklassengesellschaft, die von einem anderen Tool noch weiter auseinandergetrieben wird. Klicken Nutzer Nichtkunden an, poppen die Namen zahlender Ärzte auf, die in der Nähe praktizieren. „Nehmt lieber die“, lautet die mitgesendete Botschaft, wenngleich sich diese formal als vergrößerte Auswahl präsentiert.

Anonymität schafft freie Bahn für Frust

Die Gretchenfrage lautet, wie sich die Meinungsfreiheit mit einer derart konditionierten Öffentlichkeit verträgt – und welche Wechselwirkungen sich daraus mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte Betroffener ergeben. Als Gleiche unter Gleichen erscheint die Kölner Ärztin jedenfalls nicht. Das Unternehmen formt die Räume des vielstimmigen Austauschs schon allein mit seiner Webseiten-Optik. Sind die Nutzer angesichts gediegener Selbstpräsentation zahlender Ärzte ebenso zu Kritik bereit wie gegenüber Kollegen, die sich dem Portal verweigern? Könnte sein. Oder auch nicht.

Hinzu kommt die garantierte Anonymität. Anders als der Bundesgerichtshof einmal meinte, ist sie dem Internet zwar nicht immanent, da der Gesetzgeber Klarnamenpflichten anordnen könnte. Aber es liegt auf der Hand, dass dies die Meinungs- und Bewertungsfreude erheblich dämpfen würde. Die Kehrseite ist eine freie Bahn für die menschliche Regung, im Schutz der namenlosen Masse Frust abzulassen. Aus Bewertung wird Beschimpfung, aus Aufklärung Kampagne.

Der offene Zugang begünstigt eine unendliche Vielfalt von Manipulation

Wenn solche Nutzerportale oder auch Netzwerke wie Facebook, Twitter und Co. damit nur abbilden, wie sich manch fehlbare Gemüter verleiten lassen, wäre es hinzunehmen. Aber längst ist klar, dass Falscheinträge unter Tarnidentitäten ein Massenphänomen sind. Gar nicht zur reden von Debattenrobotern, die auf Schlüsselbegriffe anspringen, um ihren programmierten Senf dazuzugeben. Der niedrigschwellige Zugang zur breiten Öffentlichkeit begünstigt eine unendliche Vielfalt von Manipulation. Natürlich lehnen die Betreiber das lautstark ab. Doch letztlich wird auch die von „Jameda“ beschworene Transparenz nach wirtschaftlichen Prinzipien entfaltet. Sie ist kein neutrales Forum, sie ist ein (Werbe-)Produkt. Immerhin eines, das als solches erkennbar ist.

Solange die Systeme für Betreiber, Benutzer und Benutzte gut beherrschbar sind, wird ein Ausgleich zwischen der Meinungsfreiheit und dem Anspruch Einzelner zu finden sein, aus ihnen auszusteigen. Aber von einem Arzt oder einem Restaurantchef wäre es viel verlangt, sich statt um Patienten oder Gäste um mögliche massenhafte Verleumdung in Netzportalen zu kümmern. Die dort auf welche Weise auch immer versammelte und verfälschte Meinungsmacht kann Betriebe und Karrieren ruinieren. Urteile aus dem Internet sind vielfältig und manchmal informativ, jedoch selten gerecht oder substantiiert begründet.

Die Freiheit, Menschen, ihre Dienste und Produkte zu bemeinen, sich überhaupt öffentlich zu entäußern, gerät unter den Bedingungen einer offenen, aber eben auch nach ökonomischen Motiven arrangierten und hochgradig missbrauchsanfälligen Kommunikation in neue Spannungsfelder. Beispielhaft dafür ist der Konflikt um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das Anbieter stärker in die Pflicht nimmt, strafbare Hetze zu löschen. Die Kritik, damit würde die Meinungsfreiheit abgeschafft und der Rechtsstaat outgesourct, ist nur aus einer erstaunlich analogen Weltsicht heraus zu begründen. Danach wären Facebook oder Twitter das virtuelle Pendant zur freien Rede auf öffentlichen Straßen und Plätzen, auf denen ja auch nur Polizei und Justiz und niemand anderer für Recht und Ordnung zu sorgen habe. Allerdings kann es, um im Bild zu bleiben, auch so sein, dass der Nutzer mit seiner Anmeldung beim Netzwerk nicht die Straße, sondern ein Geschäft betritt, in dem der Betreiber das Hausrecht hat und zugleich dafür verantwortlich ist, dass Gesetze eingehalten werden. Man bewegt sich also auf fremdem Terrain, ist Kunde und bezahlt dafür sogar, nämlich mit der Freigabe von Daten.

Ein Kulturverlust durch "Overblocking" ist bisher nicht erkennbar

Hier fällt es schwer, die Räume der grundgesetzlichen Meinungsfreiheit zu vermessen. Wenn Facebook als Reaktion auf das NetzDG viel mehr löscht, als es müsste – und dem deutschen Gesetzgeber damit mutmaßlich eins auswischen will –, wäre zunächst Facebook die korrekte Adresse für Empörung. Es fragt sich allerdings, ob Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit die richtigen Schlagworte dafür wären. Der Kunde ist schließlich frei, das Geschäft zu verlassen und das nächste zu betreten. Oder er sucht andere Möglichkeiten der Willensbekundung. Das vornehme Menschenrecht der Meinungsfreiheit führt vielerorts ein vitales Dasein, online wie offline.

Die Politik neigt bisher dazu, Netzwerke oder Bewertungsportale in der beschrieben Weise als Privatgeschäft einzuordnen und hat sich deshalb auch für die Form des NetzDG entschieden. Justizminister Heiko Maas und seine SPD hatten in der vergangenen Legislaturperiode angedacht, den Löschpflichten einen Anspruch der Nutzer gegenüberzusetzen, zu Unrecht gelöschte Wortmeldungen wiederherzustellen. Das wäre in der Tat eine fundamentale Stärkung der Meinungsfreiheit gewesen – damit verbunden allerdings die Anerkenntnis, dass es sich bei den Netzwerken dann doch um so etwas wie Straßen und Plätze handelt, für die in erster Linie der Staat zuständig wäre.

Die Richter könnten wieder Distanz erkennen lassen

Ein solches Projekt hätte daher mit dem NetzDG rechtspolitisch überkreuz gelegen. Aber auch aus anderen Gründen ist es zu begrüßen, dass die Koalitionspartner in spe laut ihrem Vertragsentwurf davon Abstand genommen haben. Ein Schutzanspruch für Netzwerk-Einträge wäre in tiefer Eingriff in die unternehmerische Freiheit gewesen, mit den Kundenäußerungen nach den Regeln des Hausrechts umzugehen. Das Gros der widerlichen Anwürfe gegen Ausländer, Homosexuelle, Frauen, Flüchtlinge, Muslime, linksversiffte Gutmenschen oder rechte Spinner ist, entgegen vielfacher Ansicht, straflos und damit zulässig. Dergleichen Gelöschtes per Gesetz wieder in den Diskurs zu übernehmen, würde die Ziele des NetzDG konterkarieren. Ohnehin liegt im gefürchteten „Overblocking“ von unbotmäßigen Beiträgen offenbar kein dramatischer Kulturverlust. Jedenfalls sind bislang wenig Fälle bekannt geworden, die Anlass zur Sorge geben müssten.

Wie es aussieht, gelingt es der Politik, die sensiblen Konzepte von Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit samt ihrer Beschränkung auf die Netzportale anzuwenden – und dies nötigenfalls auch zu unterlassen. Im Zweifel abzuwarten und die Entwicklung zu beobachten, hat sich bewährt. Das Schicksal der Meinungsfreiheit wird auch nicht mit dem „Jameda“-Urteil besiegelt. Es könnte jedoch sein, dass die Richter wieder mehr Distanz spüren lassen zu derartigen Arrangements, die ungefragt Personendaten sammeln, nach eigenen Maßstäben sortiert zur Abstimmung stellen und das Ganze als Werbung verkaufen. Der Meinungsfreiheit wird einiges zugemutet, wenn in ihren Namen gezielt Wettbewerbsnachteile produziert werden. Oder wenn sie Systeme schützen soll, in denen sich anonyme Wut-Trolle ebenso tummeln wie Geheimdienstler mit ihrer Desinformationsagenda. Manches wird man „reparieren“ können, wie es Mark Zuckerberg mit Facebook will. Helfen muss da niemand.

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