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Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist wieder über die Millionenmarke gestiegen

© Oliver Berg/dpa

Mehr als eine Millionen: Warum steigende Langzeitarbeitslosigkeit in der Krise zum Problem wird

Arbeitsmarktforscher warnen davor, dass mehr Menschen lange ohne Job sein werden. Auch auf dem sozialen Arbeitsmarkt hinterlässt die Krise Spuren.

Auf den ersten Blick ist der deutsche Arbeitsmarkt ganz ordentlich durch die Krise gekommen. Das „große Beben“ sei ausgeblieben, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vor kurzem auf einer Jahresbilanz. Allein 22 Milliarden Euro gab die Bundesagentur für Arbeit (BA) im letzten Jahr für Kurzarbeit aus, damit nicht massenhaft Arbeitsplätze verloren gehen.

Doch es gibt eine Zahl in der offiziellen Statistik, die Arbeitsmarktforscher beunruhigt: Im Februar stieg die Zahl der Langzeitarbeitslosen auf mehr als eine Million, zum ersten Mal seit 2015. So viele Menschen waren also länger als ein Jahr vergeblich auf Jobsuche.

Es trifft Menschen quer durch alle Altersgruppen. Besonders stark fällt die Steigerung bei den Jüngeren aus: In der Gruppe der unter 25-jährigen verdoppelte sich die Zahl gegenüber dem Vorjahr, bei den 25- bis 35-jährigen lag das Plus bei knapp 55 Prozent. Nicht nur Personen ohne Berufsausbildung rutschen in die Langzeitarbeitslosigkeit, auch bei Akademikern gibt es einen spürbaren Anstieg (plus 63 Prozent).

Es ist erst der Anfang eines Trends, prognostiziert Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): „Im April und Mai werden die ersten Corona-Langzeitarbeitslosen in der Statistik auftauchen“, sagt er. Also diejenigen, die seit Krisenbeginn arbeitslos geworden sind. Allein im ersten Lockdown stieg die Zahl der Arbeitslosen um mehr als 600.000. Nicht alle von ihnen bleiben automatisch auch dauerhaft ohne Job. Doch IAB-Forscher Weber schätzt, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen um mindestens weitere 100.000 Personen steigen könnte.

Das Problem ist, dass es deutlich weniger Einstellungen gibt

Bei den Entlassungen sei der Arbeitsmarkt im Moment „robust“, viele Jobs würden durch Kurzarbeit gehalten, sagt Weber. Das Problem sei, dass es „deutlich weniger“ Einstellungen gebe. Die Zahl der offenen Stellen brach im zweiten Quartal 2020 um mehr als ein Drittel ein, im vierten Quartal lag sie immer noch ein Sechstel unter Vorkrisenniveau.

Auch BA-Chef Detlev Scheele sieht „erste Anzeichen“ einer sich verfestigenden Arbeitslosigkeit in Folge der Pandemie. Er weiß, welcher Kreislauf in Gang gesetzt werden kann. Je länger Arbeitslosigkeit dauert, desto mehr fehlt die alltägliche Arbeitsroutine, berufliches Wissen veraltet, das Selbstvertrauen leidet. „Wenn Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen, haben sie bleibende Nachteile“, sagt Arbeitsmarktforscher Weber. „Es ist schwerer, da wieder rauszukommen.“

Lange galt es als eines der zentralen Probleme auf dem Arbeitsmarkt, dass es mit jeder Wirtschaftskrise mehr Menschen gab, die dauerhaft außen vor blieben. Im Jahr 2006, ein Jahr nach Einführung von Hartz IV, stieg sie auf einen Rekordwert von knapp 1,9 Millionen. Als im Jahr 2016 die Zahl der Langzeitarbeitslosen erstmals seit Jahrzehnten unter die Millionenmarke rutschte, wurde das als Erfolg gewertet. Mit der Corona-Krise droht nun wieder ein Rückschlag.

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Umso problematischer findet es die Grünen-Arbeitsmarktexpertin Beate Müller-Gemmeke, dass die Arbeitsmarktförderung im Pandemiejahr 2020 stark eingeschränkt wurde. Die berufliche Weiterbildung brach im ersten Lockdown vor einem Jahr massiv ein, wie die Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine kleine Anfrage der Grünen-Politikerin zeigt.

Arbeitsmarktförderung ging in der Krise stark zurück

Gab es im März 2020 bundesweit noch gut 10.000 Eintritte in entsprechende Maßnahmen, waren es im April nur noch 3500. Zwar stieg diese Zahl im Laufe des Jahres wieder an, hat sich aber noch nicht wieder stabil auf Vorjahresniveau eingependelt.

Auch der soziale Arbeitsmarkt – eines der zentralen Vorhaben von Arbeitsminister Heil zur Förderung von Langzeitarbeitslosen - kommt nicht richtig voran. Während bis März 2020 zwischen 2.000 und 4.000 Personen pro Monat einen solchen geförderten Job anfingen, sank die Zahl bis November 2020 auf durchschnittlich etwa 1.000 Neu-Eintritte im Monat. Die Eintrittszahlen blieben „hinter den ursprünglichen Planungen zurück“, schreibt das Ministerium.

Es brauche jetzt besondere Anstrengungen, um langzeitarbeitslosen Menschen Chancen und Perspektiven zu eröffnen, fordert die Grünen-Abgeordnete Müller-Gemmeke: „Sobald es die Corona-Lage zulässt, muss die Arbeitsförderung in den Jobcentern wieder hochgefahren werden.“

Die FDP wiederum setzt sich im Bundestag dafür ein, stärker auf private Arbeitsvermittler zu setzen: Auch Hartz-IV-Empfänger sollen Anspruch auf einen entsprechenden Vermittlungsgutschein haben, heißt es in einem Antrag, der am Mittwoch im Arbeitsausschuss beraten wird. Es dürfe keine Möglichkeit ungenutzt bleiben, Menschen bei ihrem Widereinstieg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen, sagt der sozialpolitische Sprecher Pascal Kober.

Staatliche Unterstützung, wenn Betriebe neue Jobs schaffen?

Arbeitsmarktforscher Weber schlägt einen anderen Weg vor. Seine Idee: Der Staat sollte nicht nur Geld dafür ausgeben, dass Entlassungen vermieden werden, sondern auch dafür, dass neue Jobs geschaffen werden. „Arbeitgeber sollten für ein halbes Jahr keine Sozialbeiträge zahlen müssen, wenn sie eine neue Stelle schaffen. Das wäre ein starker Anreiz, jemanden einzustellen“, sagt er.

Bei Ausbildungsplätzen setzt die Bundesregierung schon jetzt auf finanzielle Zuschüsse. So zahlt der Staat Unternehmen, die trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten mehr ausbilden als im Vorjahr oder zumindest die Zahl ihrer Lehrstellen stabil halten, in der Corona-Krise eine Ausbildungsprämie. In diesem Jahr soll die Summe aus dem letzten Jahr verdoppelt werden – zwischen 4000 und 6000 Euro gibt es pro Ausbildungsplatz.

Auch die EU-Kommission will mit dem Programm „EASE“ Unternehmen in den Mitgliedstaaten dabei unterstützen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Fördergelder sollen unter anderem dafür genutzt werden können, bei Neueinstellungen die Sozialbeiträge vorübergehend zu reduzieren. Eine solche Maßnahme, ist IAB-Forscher Weber überzeugt, würde „sofort und einfach“ wirken.

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