zum Hauptinhalt
Nach israelischen Luftangriffen sind Explosionen am Strand von Gaza zu sehen.

© Sami AL-SULTAN / AFP

Update

Massiver Raketenbeschuss: Warum der Gazakonflikt gerade jetzt eskaliert

Kurz vor dem Eurovision Song Contest weiten radikale Islamisten ihre Angriffe aus. Ihr Kampf gegen Israel soll von internen Problemen ablenken.

Zwischen Kriegs- und Feierstimmung liegen in Israel gerade einmal 60 Kilometer. Während am Wochenende die ersten Proben für den Eurovision Song Contest (ESC) in Tel Aviv begonnen haben, rannten die Anwohner der Dörfer und Städte in der Nähe des Gazastreifens mehrfach in die Schutzbunker. Wenige Tage vor dem Beginn des ESC spitzt sich die Lage im Südwesten wieder einmal gefährlich zu.

Mindestens vier Israelis wurden am Sonntag bei den Raketenangriffen aus Gaza getötet. Mehr als hundert wurden verletzt. Es sind die ersten zivilen israelischen Todesopfer durch Raketenbeschuss seit dem Gaza-Krieg 2014. Bei Gegenangriffen der israelischen Armee wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza am Sonntag mindestens zehn Palästinenser getötet.

Seit Freitagabend sind aus dem Gazastreifen mehr als 600 Raketen auf Israel abgefeuert worden, die meisten davon auf Dörfer und Städte im Grenzgebiet, Sirenen heulten allerdings auch im mehr als 40 Kilometer entfernten Beerscheva, in Rechowot und in Beit Schemesch nahe Jerusalem.

Netanjahu verhängt Sonderstatus

Entlang des Küstenstreifens blieben am Sonntag – in Israel der erste Arbeitstag der Woche – Schulen und Kindergärten geschlossen. Bereits am Samstag wurden Gebiete und Straßen nahe der Grenze gesperrt. Erstmals seit dem Gazakrieg 2014 verhängte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Sonntag einen „Sonderstatus“ für jene Gemeinden, die bis zu 40 Kilometer von Gaza entfernt liegen. Das heißt, in diesem Gebiet haben lokale und staatliche Behörden vorerst für 48 Stunden besondere Rechte, um das Leben der Bürger zu schützen. Auch das Militär kann Zivilisten Anweisungen geben, zum Beispiel, um in Krisenzeiten die Versorgung mit Strom und Wasser aufrechtzuerhalten.

Israels Armee reagierte auf die Attacken mit Vergeltungsschlägen gegen mehr als 250 militärische Ziele im Gazastreifen, darunter Trainingszentren und Waffenlager sowie einen Tunnel der Terrororganisation Islamischer Dschihad, der nach Armeeangaben im Süden 20 Meter unter der Erde bis unter israelisches Gebiet führte und für Angriffe auf die Bevölkerung gegraben worden sein soll. Außerdem wurden Privathäuser von Funktionären von Hamas und Islamischem Dschihad beschossen, in denen sich Waffen befunden haben sollen.

Kalkulierte Eskalation

Insgesamt mindestens zehn Menschen sollen in Gaza bisher getötet worden sein, darunter mindestens fünf Mitglieder von Hamas und Islamischem Dschihad sowie eine schwangere Frau und ihr 14 Monate altes Kind. Nach Angaben der Armee wurden sie aber nicht von israelischen Geschossen getroffen, sondern von einer Rakete aus Gaza, die ihr Ziel verfehlte und im Küstenstreifen landete. Die Regierung des jüdischen Staats hat mittlerweile die Grenzübergänge zu Gaza fast vollständig geschlossen und eine Panzerbrigade in den Süden verlegt. Es wird damit gerechnet, dass die Gefechte noch einige Tage anhalten.

Dass die Hamas und andere islamistische Extremistengruppen gerade jetzt auf Eskalation setzen, kommt nicht von ungefähr. Denn in diesen Tagen kommt einiges zusammen. Ramadan, der heilige Fastenmonat der Muslime, hat begonnen. Israel feiert bald seine Unabhängigkeit, die Palästinenser erinnern am 15. Mai an die Nakba, den „Tag der Katastrophe“, als sie aufgrund der Gründung Israels 1948 fliehen mussten oder vertrieben wurden.

Doch von entscheidender Bedeutung für die Islamisten dürfte ein anderes Ereignis sein, das sie für ihre Ziele instrumentalisieren wollen: In einer Woche beginnt der Eurovision Song Contest in Tel Aviv. Tausende Touristen werden in der Mittelmeermetropole erwartet. Israel ist deshalb an größtmöglicher Ruhe interessiert, um das Ereignis störungsfrei über die Bühne zu bringen. Das weiß die Hamas – und versucht aus diesem Wunsch Profit zu schlagen.

Hoher Preis für Feuerpause

So kündigten am Sonntagmorgen Hamas und Islamischer Dschihad an, ihre Angriffe nochmals auszuweiten - und zwar auf Regionen, die deutlich mehr als 40 Kilometer vom Küstenstreifen entfernt liegen. Nach mehreren Hundert bereits abgefeuerten Raketen brüsteten sich die Extremisten damit, dass man mit dem Geschoss-Terror noch gar nicht richtig begonnen habe. In einem Propagandavideo ist denn auch zu sehen, wie sich vermummte Islamisten darauf vorbereiten, Israels Atomreaktor Dimona und den internationalen Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv anzugreifen - für den jüdischen Staat eine Horrorvorstellung.

Berichten zufolge sind die radikalen Islamisten in Gaza unzufrieden mit der Umsetzung der Vereinbarungen nach der Eskalation vor einigen Wochen. Angeblich soll versprochene finanzielle Unterstützung aus Katar in Millionenhöhe noch nicht bei den Menschen angekommen sein. Das Außenministerium in Jerusalem teilte mit, Israel habe die Geldlieferungen aus dem Emirat Katar nicht verhindert. Die Hamas sieht die Schuld wie beim „zionistischen Erzfeind“.

Auf das Geld sind die Islamisten dringend angewiesen. Mit ihm sollen vor allem Bedienstete bezahlt werden, die seit Langem auf ihren Lohn warten. Überhaupt wächst die Not in Gaza tagtäglich – und damit die Unzufriedenheit. Und immer häufiger machen die Menschen nicht mehr nur allein Israel für ihre verzweifelte Lage verantwortlich, sondern die seit 2007 mit harter Hand herrschende Hamas. Für die Islamisten bedeutet das: Sie können sich ihrer Macht nicht mehr sicher sein. Auch deshalb regnet es Raketen auf Israel. Der Kampf gegen den äußeren Feind soll von den Verwerfungen im Inneren ablenken. Und für eine Feuerpause, so das Kalkül, soll Israel einen möglichst hohen Preis zahlen.

Zur Startseite