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DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen durch das geöffnete Grenztor von Ungarn aus nach Österreich.

© dpa

Massenflucht vor 30 Jahren: Wie ein Picknick in Ungarn den Mauerfall vorbereitete

Am 19. August 1989 überquerten in Ungarn hunderte DDR-Bürger unbehelligt die Grenze nach Österreich – es war der Auftakt zum Fall des Eisernen Vorhangs.

An der Grenze zwischen Österreich und Ungarn liegt der Neusiedler See, ein Erholungsgebiet für Segler, Wander, Radfahrer. Vor 30 Jahren hatten engagierte ungarische Oppositionspolitiker hier ein Picknick organisiert. Direkt am Grenzverlauf wurde über dem Lagerfeuer gegrillt, die Grenze für ein paar Stunden geöffnet.

Der „Eiserne Vorhang“, ein Hochsicherheitszaun zwischen Österreich und Ungarn, wurde schon seit Mai 1989 progressiv abgebaut, da sich der verschuldete sozialistische Staat die Reparatur nicht leisten konnte.

Am 27. Juni hatten der damalige ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock den Grenzzaun an einer Stelle öffentlichkeitswirksam durchschnitten. Und die Ungarn durften schon 1988 mit „Weltpässen“ ausreisen.

Doch am 19. August 1989 gewährten die Organisatoren des Paneuropäischen Picknicks Einblick in eine Zukunft, in der die Grenze zwischen Ost- und Westeuropa an jeder Stelle frei zu überqueren sei. Erst am folgenden Tag wurde ihnen bewusst, wie geschichtsträchtig der Tag war, erinnert sich Mitorganisator László Nagy in einem späteren Artikel.

Zur ursprünglichen Zusammenkunft von ungarischen und österreichischen Grenzbewohnern mit der Kaiserenkelin Walburga von Habsburg gesellten sich Hunderte DDR-Bürger, die über Flugblätter in Budapest und am Balaton von dem westungarischen Picknick erfahren hatten. Insgesamt würden an diesem Tag über 600 Menschen über die Grenze nach Österreich fliehen und schließlich in Westdeutschland Zuflucht finden.

Deutschland ist Ungarn seit 1989 dankbar

Ihr Glück: Die ungarischen Grenzbeamten schossen nicht. Ein Symbol der europäischen Teilung, der knapp 250 Kilometer lange „Eiserne Vorhang“ an der österreichisch-ungarischen Grenze, war ohne Blutvergießen gefallen. Das Wegschauen der Grenzer gab den Weg frei für den friedlichen Fall des zweiten Symbols, der Berliner Mauer, am 9. November.

Deutschland ist Ungarn seit 1989 dankbar für die Vorarbeit zum Mauerfall. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte das erst am Samstag in ihrer wöchentlichen Video-Ansprache. „Wir werden Ungarn immer dankbar sein für diesen Beitrag“, sagte Merkel. Umgekehrt ist Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel mittlerweile in den Augen vieler Ungarn, die Ministerpräsident Viktor Orbán und seine restriktive Migrationspolitik unterstützen, eine Personalie der Bedrohung. Am Montag wird sie zum 30. Jubiläum an den Picknickort reisen.

DDR-Bürger informieren sich auf einer Landkarte über den Verlauf der grünen Grenze.
DDR-Bürger informieren sich auf einer Landkarte über den Verlauf der grünen Grenze.

© picture alliance / dpa

Schon 2009 hielt Merkel dort eine Rede. Sie sprach von den Ungarn, die dem „Freiheitswillen der Deutschen Flügel verliehen“ hatten. Von einem Land, das einen „großartigen Beitrag (…) für die Freiheit und Einheit Europas geleistet hat“. Sie verwies auf die Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen, die damals von ungarischen Oppositionsbewegungen ausging. Sie nannte ausdrücklich die Partei Fidesz, der Orbán vorsitzt, und als deren revolutionäre Führungsperson er schon 1989 brillierte. An diesem 30. Jubiläum, einem Fokus der Erinnerung, wird besonders deutlich, wie sich das Verhältnis der Fidesz zur Grenze änderte.

Etwa 60 Kilometer nordöstlich vom Picknickort Piuszpuszta/Sankt Margarethen, einmal rund um den Neusiedler See herum, liegt die ungarische Grenzstadt Hegyeshalom. Die politische Stimmung war ebenfalls emotional aufgeladen als Anfang September 2015 Hunderte, nach manchen Schätzungen bis zu 3000 Menschen, diesmal hauptsächlich aus Syrien und dem Irak, von Hegyeshalom zu Fuß nach Österreich liefen. Sie waren zuvor mit Bussen an die Grenze gebracht worden, nachdem sich ein langer Zug an Menschen vom Budapester Bahnhof Keleti an der Autobahn entlang auf zum flüchtlingsfreundlicheren Westen machte und um menschenunwürdiger Verhältnisse am Bahnhof zu entgehen. In den Staatsmedien wurde argumentiert, dass die „illegalen Migranten“ für die Menschen in den Gemeinden an der Autobahn gefährlich werden könnten und man sie deshalb zur Grenze Hegyeshalom/Nickelsdorf fuhr. Seit April 2015 hatten Riesenplakate der Regierung vor den Einwanderern gewarnt, die Ungarn die Arbeit stehlen und sich nicht an das Grundgesetz halten würden.

Orbán nennt es „System der nationalen Zusammenarbeit“

Im Herbst 2015 wurde an der südlichen Grenze zu Serbien ein Zaun aufgezogen. Die Regierung installierte zwei Transitzonen, an der an jedem Werktag jeweils einer Person Einlass gewährt wird. Ein Picknick findet an dieser Grenze nicht statt. Im Gegenteil: Die ungarischen Autoritäten haben seit August 2018 mindestens 25 Menschen in den Transitzonen Nahrung verwehrt, berichten Menschenrechtsorganisationen. Ende Juli hat sich deshalb der Europäische Gerichtshof eingeschaltet.

Als Oppositionspartei in den Jahren des zerfallenden Sozialismus, durfte Fidesz an Runden Tischen mit dem sozialistischen Zentralkomitee in Dialog treten. Nun setzt die gleiche Partei auf autoritäre Maßnahmen für den Machterhalt. Ob Medien, NGOs oder Forschungsinstitutionen - beinahe alle gesellschaftlich relevanten Bereiche fielen per Gesetz unter die Kontrolle der Regierung. Orbán nennt es „System der nationalen Zusammenarbeit“. Wie Gorbatschow, der 1985 noch den Warschauer Pakt um 20 Jahre verlängerte, glaubt auch Viktor Orbán, dass sein System noch lange halten wird.

Die Grenzen aber sind offen. Seit 2010 haben 300 000 Ungarn das Land und die „nationale Zusammenarbeit“ verlassen. Die meisten übrigens nach Deutschland, auf der Suche nach einem guten Leben.

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