zum Hauptinhalt
Der Satiriker Martin Sonneborn übt ernste Kritik an den Kandidaten, die Ursula von der Leyen zusammengestellt hat.

© picture alliance / dpa

Martin Sonneborn wirbt für moralische Integrität: Warum ich die EU-Kommission ablehnen werde

Von der Leyen will Geschlechterparität für ihr Kommissionsteam. Nötiger wäre eine Quote für Nicht-Vorbestrafte und Millionäre ohne Interessenskonflikte. Ein Gastbeitrag.

Martin Sonneborn ist fraktionsloses Mitglied des Europa-Parlaments und Politiker der „Partei“.

Am Mittwoch stimmt das Europäische Parlament in Straßburg über die neue EU-Kommission ab. Wenn bis Dienstagabend, 23.59 Uhr, keine Angebote in Millionenhöhe eingehen, werde ich gegen sie votieren.

Die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat erklärt, sie wolle ihre Kommission paritätisch mit Männern und Frauen besetzen. Wichtiger wäre, paritätisch dahingehend zu besetzen, dass zumindest die Hälfte der Kommissare über ausreichende moralische Integrität verfügt, nicht vorbestraft ist, sich nicht gerade vor einem Untersuchungsausschuss verantworten muss und kein Millionenvermögen besitzt, das zu Interessenskonflikten führen könnte.

Es besteht eine bestürzende Deckungsungleichheit zwischen den offiziellen Verlautbarungen der EU-Kommission und dem, was sich im öffentlichen Diskurs der Entsendestaaten über die designierten Kommissare findet. Die fehlende gesamteuropäische Öffentlichkeit verhindert fundierte Kritik.

Statt Erklärungen gab es leere Zettel

Meine französische Kollegin Manon Aubry berichtet aus dem Justizausschuss, der traditionell den finanziellen Hintergrund sämtlicher Kandidaten prüft, bei der geforderten „Erklärung der finanziellen Interessen“ hätten neun Kommissare „unvollständige, verdächtige oder geradezu schockierende Erklärungen“ abgegeben, vier lediglich einen leeren Zettel, weitere vier besitzen Anteile an Unternehmen, die als Lobbyisten Einfluss auf die EU-Politik zu nehmen versuchen (Bayer, ENI). Zwei Erklärungen stehen in offenem Widerspruch zu früheren Erklärungen.

Als von der Leyen kürzlich vor die Presse trat, um eine Eloge auf Macrons Personalvorschlag Sylvie Goulard zu halten, eine ehemalige Parlamentskollegin von mir, wurde diese gerade auf einer Polizeiwache in Nanterre verhört. Es ging um eine gesetzwidrige Bezahlung fiktiver Assistenten aus EU-Mitteln. Als die Affäre 2017 publik wurde, musste Goulard als frisch ernannte Verteidigungsministerin nach nur vier Wochen im Amt zurücktreten. Merke: Für die französische Politik ist Sylvie nicht sauber genug, für Europa reicht’s! Beziehungsweise auch nicht, denn das Parlament lehnte sie ab.

Den SUV falsch angemeldet, um der eigenen Steuer zu entgehen

Wie auch den früheren ungarischen Justizminister László Trócsányi, der den Parlamentariern beim besten Willen nicht zu vermitteln war, und Rovana Plumb (Rumänien), die u.a. dadurch auffiel, dass sie als Umweltministerin ihren Luxus-SUV in Bulgarien registrieren ließ, um einer von ihr selbst erlassenen Umweltsteuer zu entgehen.

Der polnische Kandidat für das Agrarressort dagegen wurde durchgewunken, obwohl er durch glänzendes Unwissen auffiel: Glyphosat? Eine interessante Frage, er werde sich da mal einarbeiten...

Marija Gabriel (Bulgarien) löste 2017 als Digitalkommissarin Günther Oettinger ab und steht diesem an Ahnungslosigkeit kaum nach. In ihrem Lebenslauf führt sie unter Computerfähigkeiten „Microsoft Office Tools“ und „Internet“ an. Folgerichtig entwickelte sie auch etwas seltsame Haltungen zur Verschlüsselung („Hintertür für Sicherheitsbehörden“) und zur digitalen Zukunft Europas („Wir brauchen kein europäisches Google“).

Plötzlich vermögend? Kein Thema

Die Kandidatin Dubravka Suica, deren Partei in Kroatien nach Korruptionsvorwürfen sechs Minister durch Rücktritt oder Austausch verlor – der ehemalige Regierungschef sitzt mittlerweile in Haft –, ist bis heute nicht in der Lage, einer interessierten Öffentlichkeit die Herkunft ihres Vermögens zu erklären. Bei ihrer Anhörung im EU-Parlament hatte ich 60 Sekunden Redezeit und eine dezidierte Frage: „Trotz aller gelegentlichen unintensiven Bemühungen ist es der EU in den vergangenen 20 Jahren nicht gelungen, den Armutssockel von knapp 25 Prozent zu senken. Nach Angaben von Eurostat leben über 100 Millionen EU-Bürger in Armut oder sind von ihr bedroht. Sie hingegen sind ein Beispiel, das den Europäern Hoffnung geben kann: Vor rund 20 Jahren waren Sie Lehrerin mit einem klapprigen Renault und einer 60qm-Meter-Wohnung in einer Hochhaussiedlung. Dann wechselten Sie in die Politik. Heute beläuft sich Ihr geschätztes Vermögen auf über fünf Millionen Euro; eine Villa, zwei Häuser, zwei Wohnungen, ein Landhaus, eine Zwölfmeteryacht und drei Autos. Würden Sie Ihr Patentrezept mit uns Europäern tei...“

Leider leitete der vormalige Parlamentspräsident Antonio Tajani die Anhörung, der kürzlich noch öffentlich verkündet hatte, dass Mussolini aber gute Autobahnen gebaut habe. Er stellte mir an dieser Stelle das Mikrofon ab; sonst wüssten wir jetzt mehr.

Jetzt reguliert Breton die Ressorts, die seine Ex-Firma bespielt

Der greise Spanier Josep Borrell (72, angeblich Sozialdemokrat) wurde in Spanien wegen Insiderhandels verurteilt; als Präsident des Europäischen Hochschulinstituts musste er zurücktreten, weil er vergessen hatte, ein Jahreseinkommen von 300 000 Euro bei einem Energieversorger anzugeben. Außerdem ist er im Zusammenhang mit der Verfolgung Carles Puigdemonts verantwortlich für die nachrichtendienstliche Überwachung von Abgeordneten, Journalisten und einfachen Bürgern in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz. Als Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außenpolitik soll er künftig die europäischen Werte in der Welt repräsentieren.

Wir überspringen ein paar Kandidaten und kommen direkt zu meinem Favoriten Thierry Breton, Macrons Ersatzmann für Sylvie Goulard. Breton, dessen Vermögen auf rund 200 Millionen Euro geschätzt wird, zeigte in seiner bisherigen Karriere in Wirtschaft und Politik keinen übertrieben ausgeprägten Hang, die Interessen der Bevölkerungsmehrheit zu wahren. Im Zuge der Privatisierung des Telekommunikationsriesen France Telecom prägte er den berüchtigten „Plan NEXT“. Grundgedanke war dabei: Kostenreduktion durch brachialen Stellenabbau – flankiert von einer so drastischen psychologischen Kriegsführung gegen die eigenen Mitarbeiter, dass eine bis dahin beispiellose Suizidwelle einsetzte: Es gab 74 Selbstmorde in vier Jahren.

In seiner Anhörung hat Breton geschworen, er werde sich als Kommissar von allem fernhalten, was mit Atos zu tun hat, einem weltweit führenden IT-Unternehmen, bei dem er bis vor wenigen Tagen als Vorsitzender und CEO beschäftigt war. Wenn er das wahr macht, wird der Mann nur zwei Tage in der Woche arbeiten müssen, nämlich Samstag und Sonntag: Es gibt in seinem aufgeblähten Ressort – Binnenmarkt, Verteidigung, Weltraum, Digitalisierung – praktisch nichts, das nichts mit dem Unternehmen zu tun hätte.

Statt Kultur und Forschung gibt es jetzt Rüstung

Nahezu alle Bereiche, in denen das von ihm über zehn Jahre geführte Unternehmen (marktführend oder monopolistisch) tätig ist, wird Breton als EU-Kommissar nun selbst regulieren: die Vergabe von EU-Fördergeldern und -Großaufträgen eingeschlossen. Am Tag seiner Nominierung beendete die Unternehmensaktie eine monatelange Talfahrt, verließ den Jahrestiefststand und begab sich auf einen eindrucksvollen Höhenflug.

Frau von der Leyens Berater haben auch den Zuschnitt der Kommission verändert: Die Bereiche Wissenschaft, Forschung, Bildung & Kultur wurden zusammengestrichen und dafür eine neue Generaldirektion „Rüstung“ aufgemacht – obwohl der Vertrag von Lissabon EU-Investitionen in militärische Projekte untersagt. Die Militarisierung der EU geht weiter.

Martin Sonneborn

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false