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Mit oder ohne Kopftuch? Jeder Muslimin sollte die Freiheit haben, selbst darüber zu entscheiden.

© Wolfgang Kumm/dpa

Martenstein über Religion und Aufklärung: Es geht auch um die Freiheit der Muslime

Muslime werden von Rechten und aus den eigenen Reihen bedroht. Darüber sollten wir uns ebenso aufregen wie über Antisemitismus. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Martenstein

Auch ich gehöre zu denen, die Begriffe wie „christlich-jüdische Kultur“ oder die pauschale Lobpreisung des „Abendlands“ nur schwer ertragen können. Die christlich-jüdische Kultur bestand ja zu einem nicht geringen Teil aus einer Kultur der Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung von Juden. Erst die Schoa hat dazu geführt, dass in Teilen Europas der Antisemitismus heute immerhin geächtet ist – was nicht heißt, dass er verschwunden wäre.

Abschreckung - auch das gehört zum "Abendland"

Und das Abendland? In Salzburg habe ich kürzlich zum ersten Mal etwas von den „Zauberbubenprozessen“ gehört. Zwischen 1675 und 1690 wurden dort unter dem Regime des Fürstbischofs etwa 150 Kinder und Jugendliche, meist Jungen, aber auch Mädchen und einige Frauen, der Hexerei angeklagt und hingerichtet, viele von ihnen Bettler.

Der jüngste Angeklagte soll fünf Jahre alt gewesen sein, der jüngste Ermordete zehn, alle wurden gefoltert. Die Verfolgungswelle griff auf Bayern über, wo ihr bis 1723 acht Jungen zum Opfer fielen, einige wurden lebendig verbrannt. Andere Kinder mussten zur Abschreckung zuschauen. Auch das ist Abendland. Der Terror endete, als die Verfolger anfingen, auch Kinder aus der Oberschicht zu bedrohen.

Die Aufklärung hatte auch ihre Nachteile

Warum sind die Verhältnisse bei uns heute anders? Es hat mit der Aufklärung zu tun, mit den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die in die Proklamation der Menschenrechte, den Rechtsstaat und die Ächtung des Sklavenhandels mündeten. Das ist es wohl, was Leute heute meinen, wenn sie „Abendland“ sagen.

Die Aufklärung hatte auch ihre Nachteile, sie hat die Guillotine, neuen Terror und neue Fanatismen hervorgebracht. Aber unter dem Strich ist ihre Bilanz positiv. Begonnen hat sie mit der Religionskritik, mit der Erkämpfung des Rechts auf den Zweifel. Jeder hat das Recht, ein Ketzer zu sein.

Auch Muslime werden bedroht

Der SPD-Politiker Raed Saleh hat für diese Zeitung einen Essay über den Antisemitismus und den Islam geschrieben, vielem stimme ich zu. Ich habe nur eine Ergänzung. In der Auseinandersetzung, die heute geführt werden muss, geht es ja nicht nur um Antisemitismus. Es geht auch um die Freiheit der Muslime.

Sie werden nicht nur von Rechtsradikalen bedroht. Sie werden aus den eigenen Reihen bedroht, wenn sie ihren Glauben ablegen wollen, wenn sie Gebote nicht halten, das Kopftuch ablegen, wenn sie ihre Sexualität frei leben möchten, wenn sie Aleviten sind.

Über solche Vorfälle sollte man sich genauso aufregen wie über Angriffe auf Juden. Jeder Muslim hat das Recht, zu glauben, was er will, und zu leben, wie er will. Das scheint keineswegs selbstverständlich zu sein. Es ist nötig, die alten Kämpfe, die schon Voltaire geführt hat, ein weiteres Mal zu kämpfen. Ohne Mut geht das nicht.

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