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"Der Spiegel", die Speerspitze des Journalismus, hat eine Glaubwürdigkeitskrise.

© AFP

Martenstein: Fall Relotius: Wer sich den "Spiegel" vorhält

Was hätte der "Spiegel" geschrieben, wenn aus dem Umfeld von Horst Seehofer eine Relotius-hafte Flut von Unwahrheiten öffentlich geworden wäre? Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Harald Martenstein

Der deutsche Journalismus befindet sich in einer Glaubwürdigkeitskrise. Ein Fälscher, Claas Relotius, hat dem „Spiegel“ und anderen Printmedien Geschichten angedreht, die ganz oder teilweise erfunden waren. Sie waren so schön, sie mussten ganz einfach stimmen. In einer Kleinstadt, die mehrheitlich Trump gewählt hat, leben hauptsächlich Vollidioten. Flüchtlingswaisen aus Aleppo träumen von Angela Merkel.

Eine Überlebende des Widerstands gegen Hitler vergleicht die Demonstranten von Chemnitz mit den Nazis, erstaunlicherweise, bevor die Demonstration, zu der sie sich äußert, überhaupt stattgefunden hat.

Ich könnte mich nicht darüber empören, wenn Kollegen einem raffinierten Betrüger auf den Leim gegangen sind, das kann passieren, in jeder Branche. Genau in diese Richtung versucht der „Spiegel“ die Affäre Relotius jetzt zu drehen. Wir sind Opfer eines Einzeltäters. Aber Relotius war nicht raffiniert. Viele seiner Fälschungen waren leicht zu durchschauen. Im Fall der Kleinstadt Fergus Falls haben sich sogar Bewohner beim „Spiegel“ gemeldet und auf die Fälschung hingewiesen.

Bei Verbrechen heißt eine der ersten Fragen: Kann das ein Einzeltäter gewesen sein? Im Fall Relotius, einem Verbrechen an der Wahrheit, klingt die These vom Einzeltäter unwahrscheinlich. Auch ich habe die „Spiegel“-Dokumentation kennenlernen dürfen. Sie arbeitet normalerweise akribisch.

Hart mit anderen, nicht in eigener Sache?

Hart war diesmal allerdings nur der hausinterne Widerstand gegen den Journalisten Juan Moreno, der den Märchenonkel enttarnt hat. Als er seinen Verdacht äußerte, wurde ihm gedroht. Er recherchierte auf eigene Faust weiter.

Relotius’ wichtigster Förderer, der designierte Chefredakteur Ullrich Fichtner, sowie sein Ressortleiter Matthias Geyer haben ihre Verträge „erst mal ausgesetzt“. Erst mal.

Der designierte Chefredakteur Steffen Klusmann schreibt schnippisch: „Wir können jetzt jeden, der enger mit Relotius zu tun hatte, zur Verantwortung ziehen.“ Fichtner habe ja „einen ersten Beitrag zur Aufklärung geleistet“. Ist damit die Drohung gegen Moreno gemeint, den, der gegen internen Widerstand privat weiter recherchierte?

Zweite Frage: Käme irgendein Minister, in dessen Verantwortungsbereich ein ähnlicher Supergau passiert, ohne eine Rücktrittsforderung des „Spiegel“ davon? Was hätte der „Spiegel“ geschrieben, wenn sich aus dem Umfeld von Horst Seehofer eine Flut von Unwahrheiten in die Öffentlichkeit ergossen hätte?

Der Fall Relotius wurde mit dem Skandal um die Hitler-Tagebücher verglichen, beim „Stern“. Beim „Stern“ trat allerdings die gesamte Chefredaktion zurück.

2012 stand im „Spiegel“: „Er ist zurückgetreten. Das ist richtig, denn er hat als Vorbild versagt. Er gab nur zu, was sich nicht mehr verbergen ließ.“ Damals ging es natürlich um Christian Wulff.

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