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Politik: Mann von gestern, Mann von morgen

Von Albrecht Meier Fast jeder Fünfte von den Franzosen, die gestern über ihren Präsidenten entschieden, hat dem Extremisten Jean-Marie Le Pen seine Stimme gegeben. Der alte und neue Präsident heißt freilich Jacques Chirac.

Von Albrecht Meier

Fast jeder Fünfte von den Franzosen, die gestern über ihren Präsidenten entschieden, hat dem Extremisten Jean-Marie Le Pen seine Stimme gegeben. Der alte und neue Präsident heißt freilich Jacques Chirac. Geschockt von ihrem eigenen „Wahlirrtum“ in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, hat die überwiegende Mehrheit der Franzosen jetzt verhindert, dass Le Pen seinen Stimmenanteil wesentlich ausbauen konnte. Viele Franzosen haben gestern Abend aufgeatmet, dass Le Pen von seinem Wunschergebnis – 30 Prozent der Stimmen – weit entfernt geblieben ist.

Soll man jetzt also einfach wieder zur Tagesordnung übergehen? Soll man sich kurz zwicken, wie nach einem bösen Alptraum? Le Pen ist aber leider kein Alptraum. Den Populisten aus der Bretagne sind die Franzosen noch lange nicht los. Denn die Wähler Le Pens sind zum entscheidenden Faktor für die Zukunft Frankreichs geworden. Bei der Abstimmung über die Nationalversammlung im kommenden Monat kann Le Pen erneut den Ausschlag geben, so wie er vor zwei Wochen das Ende des Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin besiegelt hat.

Es gibt aber noch einen tiefer liegenden Grund, warum man Le Pen nach diesem Wahlsonntag ernster nehmen sollte denn je. Von Wahl zu Wahl ist der Chef der Front National stärker geworden. Verglichen mit ihrem landesweiten Anteil im Jahr 1997, hat die Front National auch diesmal wieder zugelegt. Die traditionelle Deutung, die Wähler der Front National hätten den etablierten Parteien einen „Denkzettel“ erteilen oder eine „Protestwahl“ inszenieren wollen, gilt nicht mehr. Wer einen Denkzettel verteilt, will den großen Parteien – egal ob den Sozialisten oder den Konservativen – etwas sagen: über seine Existenznöte, über seine Genervtheit angesichts der Gewalt in den Vorstädten, vielleicht auch nur über sein Unverständnis angesichts des politischen Diskurses.

Aber es bleiben bei diesem Denkmodell die etablierten Parteien, von denen sich der traditionelle „Protestwähler“ Besserung verspricht. Die Anhänger Le Pens haben sich aber längst von den etablierten Parteien verabschiedet. Die neue Offenheit, mit der die Freunde der Front National in den vergangenen beiden Wochen seit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl aus der Heimlichkeit der Wahlkabine getreten sind, zeigt : Sie wollen nicht bloß protestieren. Diese Franzosen wollen das Programm Le Pens – Einwanderungsstopp, Todesstrafe, Austritt aus der Europäischen Union – auch tatsächlich verwirklicht sehen.

Chiracs Äußerung direkt nach seiner Wiederwahl, er habe den Ruf nach Wandel in Frankreich gehört und verstanden, zeugt von der tief greifenden Malaise, in der Frankreichs Politik steckt. Ob Chirac sie beheben kann, ist zweifelhaft. Denn Frankreichs Präsident, obwohl von einer überwältigenden Mehrheit gewählt, ist so schwach wie keiner vor ihm. Viele Franzosen haben nicht für ihn gestimmt, sondern sie wollten Le Pen verhindern.

In Europa bleibt die Front National mit ihrem massiven Zulauf ein Sonderfall. Dass Le Pens Parolen im vergangenen Jahrzehnt und besonders in den vergangenen zwei Wochen überhaupt salonfähig werden konnten, liegt am doppelten Fehler von Frankreichs Linken: Ihr ehemaliger sozialistischer Präsident Francois Mitterrand hat die Front National seinerzeit als politischen Gegner geadelt, um Frankreichs Rechte zu spalten.

Und jetzt hat sich Frankreichs Linke selbst atomisiert. Nutznießer ist dabei ein zweites Mal Le Pen. Für wie lange und mit welchem Ausgang? Das ist die neue „incertitude francaise“ – eine Unsicherheit, die man traditionell auf unserer Seite des Rheins wähnte.

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