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Das Land ist Brandenburg ist nicht für seine Berge bekannt.

© Patrick Pleul dpa/lbn

Märker, die auf Hügel steigen: Ringen um Rekord: Wer hat den höchsten Berg in Brandenburg?

Der höchste Berg Brandenburgs – ein Titel macht sich gut, wenn es darum geht, Besucher anzulocken. Etwas über 200 Meter misst der Hagelberg bei Bad Belzig. Landesrekord. Bis dann eines Tages Großkmehlen im Osten der Ehrgeiz packte.

Wer wie Thomas Schmöhl einmal als Gärtner arbeitete, heute jedoch eine Art Landsknechtmontur als Berufsbekleidung trägt und seine Kundschaft mit einem Schwert winkend begrüßt, kann einen solch folgenreichen Karriereschritt nur bei vollem Bewusstsein und nach reiflicher Überlegung gegangen sein. Schmöhl erwartet die Gäste fröhlich im Torhaus einer Backsteinburg, eine filzige Hose an den Beinen, ein zusammengeflicktes Wams auf dem Leib, die Füße in Lederstiefeln. Überm Kopf wedelt das Schwert.

Schmöhl steht auf dem Boden der Tatsachen. Der Boden hier ist seine Heimat. Auf und mit ihm lebt und arbeitet er. Schmöhl ist der Chef des Heimatmuseums in der Burg Eisenhardt, hineingebaut in die Stadt Bad Belzig, Brandenburgs mittlerer Westrand. Er sagt: „Ich hab’ nie von hier weggewollt, in die große weite Welt.“ Die Welt in seinem Landstrich ist groß und weit genug. So weit und reich und voller Wunder, dass eine Mittelalterkluft, wie Schmöhl sie trägt, als naheliegende Arbeitsuniform durchgeht.

Rivalen - und sich doch so ähnlich

Es erscheint komplett logisch, dass am anderen Ende des Landes ein Mann an einer Kaffeetafel sitzt und fast denselben Satz sagt. Er sei „eigentlich Archäologe, von Haus aus“, sagt der Mann, „ich wollte die weite Welt sehen. Dann war sie offen nach der Wende, und ich bin geblieben.“ Er heißt Ralf Uschner, er arbeitet wie Schmöhl in einem Heimatmuseum. Er ist wie sein Kollege ein lokalpatriotischer Wissenssammler und Wissensverbreiter. Uschner trägt Jeans und Hemd.

Der entscheidende Unterschied aber ist folgender: Uschner hat – gemeinsam mit anderen – Schmöhl eines seiner Wunder weggenommen. Der eine entdeckte ein südostbrandenburgisches Gebirge, dem anderen kam damit der höchste Berg des Landes abhanden.

Berge. In Brandenburg. Uschner hätte genauso gut Brandenburgs tiefsten Tiefseegraben finden können, oder den mächtigsten Gletscher – so unwahrscheinlich scheint die Sache zu sein. Doch sie hat sich genau so zugetragen, und sie hat wiederum damit zu tun, dass die beiden Männer noch eine weitere Eigenschaft teilen. Ihr Leiden daran nämlich, dass ihrer beider Heimaten so wenig Beachtung andernorts finden. Deshalb hat Uschner sich auf die Suche nach dem Gebirge gemacht. Deshalb trägt Schmöhl die Mittelaltertracht. Schmöhl sagt: „Luther war mal bei uns. Und draußen am Hagelberg gab es eine große Schlacht, die sogenannte Kolbenschlacht, die Befreiungskriege gegen Napoleon. Ein Europawanderweg führt vorbei. Hier war viel los, würde sich echt lohnen, mal herzukommen.“

Der Hagelberggipfel - nicht mehr als eine flunderflache Erhebung

Der Kutschenberg im Osten Brandenburgs gilt jetzt als höchster Berg.
Ohne Aussicht. Der Kutschenberg im Osten gilt jetzt als höchster Berg des Landes.

© Torsten Hampel

Uschner las nach seiner Entdeckung im „Heimatkalender“ seines Heimatvereins: „In unseren Köpfen entwickelten sich Ideen von der touristischen Nutzung des Berges und von einem grandiosen Bergfest. Es bleibt zu hoffen, dass recht viele Besucher aus nah und fern in unser schönes Elbe-Elster-Land kommen, um den höchsten Berg Brandenburgs zu besuchen.“ Den neuen, echten, wahren höchsten. Wer Aufmerksamkeit und Hoffnung haben will, der braucht Superlative. Rekorde, berühmtes Personal.

Wer Goethe hat, hat gewonnen

Die Zugspitze. Den Bodensee. Caspar David Friedrich. Vielleicht Fontane. Den bayerischen König Ludwig. Goethe. Wer Goethe hat – und nicht nur als Durchreisenden und bestenfalls mit Schiller noch dazu –, der hat gewonnen. Die kleine Stadt Weimar ist weltbekannt. Potsdam hat Sanssouci, und die Uckermark hat Lieblichkeit und ein paar Störche und damit das Wohlwollen der Berliner.

Brandenburgs Südosten hat dank Uschner den Kutschenberg, den Landesrekordhalter in der Disziplin Gipfelhöhe. Uschners großer Coup und Schmöhls Niederlage sind jetzt 15 Jahre her. Eine Neuvermessung brachte damals an den Tag, dass nicht, wie bis dahin angenommen, der Hagelberg bei Bad Belzig der landeshöchste ist, sondern jener Kutschenberg im Südosten, nahe der Ortschaft Großkmehlen. Ausweislich des Statistischen Jahrbuchs ist er 201 Meter hoch. Der Hagelberg hat einen Meter weniger.

Gelegentlich ist aus diesem Umstand eine Rivalität zwischen den beiden Landschaften konstruiert worden. Eingeweihte aus dem Elbe-Elster-Land erinnern sich noch an Werbeaufsteller für die „Bild“-Zeitung im vergangenen Winter, da war sogar von einem „Krieg“ die Rede.

„Den gab es nie“, sagt Uschner. Gab es denn den Besucheransturm? „Auch eher nicht“, sagt er. „Der Berg ist ja abgelegen, man findet den ja nicht so leicht. Eine Aussicht gibt es auch nicht.“

Und wie ist das bei Ihnen, Herr Schmöhl? Besuchen den Hagelberg, seit er nur noch Brandenburgs Nummer zwei ist, weniger Menschen als zuvor? Schmöhl ist rausgefahren aus seiner Burg, er geht gerade einen sanft ansteigenden Grasweg hinauf, so sanft, dass im Winter nicht mal Schlittenfahrten infrage kommen. Links und rechts Gärten, dann junge Eichen, alte Eichen, ein Kirschbaum, Birken, eine kleine Kiefer kommt auf. 250 Schritte macht Schmöhl, und schließlich steht er auf einer offenen Wiese. Der Hagelberggipfel. Endmoräne, Saale-Eiszeit, 150 000 Jahre alt und nicht mehr als eine flunderflache Erhebung in der Landschaft.

Das erste Gipfelkreuz Brandenburgs

Wie um das wettzumachen, steht hier seit 2006 tatsächlich ein Gipfelkreuz. Brandenburgs erstes Gipfelkreuz! Versehen mit der großzügig und falsch aufgerundeten Höhenangabe „201 m ü.N.N.“ und einem rotlackierten Blechkasten. Schmöhl greift hinein und holt einen Plastikhefter heraus, das Gipfelbuch. Er blättert es durch. Jede Seite darin ist beschrieben.

„Egon, Erich, Joachim und Dieter haben mit Fahrrädern den Gipfel erklommen. Männertag, Aussicht sehr gut, alles grün, super.“

„Erfolgreich bezwungen von Ali, Christoph, Elli und Oli.“

„Auch ohne Steigeisen und Trekkingstöcke haben wir, ein einsamer Mann mit zwei Frauen, diesen Gipfel erfolgreich bestiegen. Obwohl noch unter der Baumgrenze, ist es saukalt.“

Ein Messtrupp des örtlichen Katasteramtes zog los

Es muss ordentlich was los sein hier oben. Schmöhl kommt sofort wieder ins Reden und Aufzählen, berichtet von der Funkleitstelle für den Flugverkehr, die es einmal gegeben haben soll. Dass auch diese „Gegend bis 1815 tiefstes Sachsen“ gewesen ist. Spricht über Bundeswehr-Offiziere, mit denen er auf dem Gipfel war, „ich bin dann mit denen übers Schlachtfeld getippelt.“ Über desinteressierte Berliner Schulklassen und seine eigene Überzeugung: „Jedem ist Bildung zu vermitteln – man muss es aber auch wollen.“ Kommt auf seine Burg in Bad Belzig zurück, „die älteste Burgkapelle Brandenburgs ist da drin“.

Je mehr Schmöhl redet, umso mehr verfestigt sich der Eindruck, dass hier ein Mensch am Werk ist, der den verlorenen Hagelberg-Rekord zwar noch ein bisschen bedauert, mehr aber auch nicht. Sein Heimatgefühl, vielleicht sogar ein bisschen Stolz, scheint sich ausschließlich aus Geschichte zu speisen, und die muss bitteschön weitererzählt werden. Es wäre kaum auszudenken, was den Leuten sonst entgehen würde – aus Schmöhls Sicht jedenfalls.

Terra incognita, Uschners Welt

Uschner macht genau dasselbe. Er trinkt gerade Kaffee bei einem altgedienten Heimatchronisten. Neuigkeiten austauschen, mal nach dem Rechten sehen. „Stimmt“, sagt Uschner über den Tisch hinweg, „unser Elbe-Elster-Land, das könnte man fast bezeichnen als Terra incognita, keiner kennt’s bis jetzt. Wäre schade drum.“

Terra incognita, Uschners Welt, ist nach dem Mauerfall erst einmal kein bisschen weit geworden. Sie ist implodiert. „Fast jeder der kleinen Orte hatte vorher seinen Pfarrer“, sagt er. „Die sind dann verschwunden.“ Mit ihnen gingen haufenweise andere Menschen weg, „und dann verschwanden auch die Zehn-Klassen-Schulen aus den Dörfern.“ Es wurde leer. Und weil Potsdam, die Landeshauptstadt, so weit weg ist, schwand auch noch das Interesse der Landesregierung an der Gegend. So sieht es Uschner.

Thomas Schmöhl am Gipfelkreuz des Hagelberges.
Entthront. Thomas Schmöhl am Gipfelkreuz des Hagelberges.

© Torsten Hampel

Wie kann man das ändern?, habe er sich gefragt, wie wirkt man dem entgegen? „Auf was könnte man bei uns stoßen, woran sich anknüpfen ließe?“, sagt Uschner. „Wir saßen zusammen im Heimatverein“, 1997 ist das gewesen, und er erinnerte sich an einen alten Artikel im „Heimatkalender“. In dem war von einer Erhebung in der Gegend die Rede, die höher sei als der Bad Belziger Hagelberg. Heideberg heißt sie, sie messe 201,6 Meter, blöderweise liegt der Gipfel aber in Sachsen. Doch könnte es nicht sein, dass sich auf der Brandenburger Seite dieses Berges ein Punkt findet, der immer noch höher ist als die Flunder von Bad Belzig?

Ein Messtrupp des örtlichen Katasteramtes zog los, eine erste Voruntersuchung, suchte solch einen Punkt und fand ihn. 200,8! Bewiesen war damit aber noch nichts. Und es fehlte ein aktueller Abgleich mit dem Hagelberg. Der war weit weg, das Vermessungsvorhaben verschwand erst mal in der Versenkung – bis Uschner zwei Jahre später einen Ausflug nach Bad Belzig machte. „Erste Inaugenscheinnahme“, sagt er. Ein weiteres halbes Jahr später, an einem Samstag im März, wurde vermessen. Das Ergebnis: Der Hagelberg maß 200,3 Meter, war also tatsächlich kleiner. Vor der Rückfahrt machte der Trupp noch Beweisfotos vom Ort des Geschehens. Hartmut Adler, ein Mann vom Katasteramt, schreibt in seinen Erinnerungen an diesen Tag: „Das Fotografieren des ‚Gipfels‘ erschien uns besonders wichtig, denn mit einer Lkw-Fuhre Muttererde und einer Packung Grassamen könnte man den Hagelberg problemlos ‚erhöhen‘.“

Sie hatten den Film gesehen mit Hugh Grant

Das erschien als reale Gefahr. Der Kinofilm „Der Engländer, der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam“ war den Elbe-Elster-Ländern noch in bester Erinnerung. Hugh Grant spielte die Hauptrolle, der Inhalt des Films drehte sich um genau eine solche Hügelaufschüttung. Am Sonntag darauf machte sich die Gruppe auf zum Heideberg, zur korrekten und sorgfältigen Höhenmessung. In der Nähe einer Bank fanden sie wieder einen Punkt auf der Brandenburger Seite des Berges, der höher als der Hagelberg war. Diesmal waren es 201,4 Meter. Zwei Wochen später kam das Fernsehen. Das Fernsehen filmte den 201,4-Meter-Punkt und dessen stolze Entdecker, hatte zuvor aber mit dem Direktor des Landesvermessungsamtes gesprochen. Und der ließ ausrichten, der Punkt sei kein Berg. Der Punkt sei eine topografische Erhebung, die höchste des Landes zwar, doch der eigentliche Berg sei immer noch der Heideberg, und dessen Kuppe war in Sachsen.

Empfindliche Niederlagen wie diese können mutlos machen. Uschner aber hatte sich festgebissen, und am Abend fiel ihm der Kutschenberg ein, zehn Kilometer entfernt, der stehe doch seit Jahr und Tag mit 199,7 Metern in den Karten, und man wisse ja, was man von Karten wie diesen, erstellt zu DDR-Zeiten, zu halten habe. Im Zweifel wenig. Könnte es also nicht sein, dass eine neue Messung da etwas Höheres ergeben würde?

Es konnte sein. Sie schauten nach, vermaßen, 201 Meter, gewonnen! Der „Heimatkalender“ schrieb: „Der Hagelberg war entthront! Außerdem hatten wir unserem Land ein weiteres Mittelgebirge ‚geschenkt‘, denn Höhenzüge mit Gipfelpunkten über 200 Meter zählen als solche.“ Es gab Kaffee und Kuchen.

Es gibt eine Skihütte, aber keinen Ausblick

Der Kutschenberg. Auch eine Endmoräne, wieder die Saale-Eiszeit. Mit Kiefern, Birken und jungen Buchen bewachsen, es gab mal eine Sprungschanze, und auf halber Höhe steht eine verlassene Skihütte. Wer ohne Wanderschuhe hinaufsteigt, kommt ins Rutschen, so steil ist es. Wenn der Hagelberg eine Flunder ist, dann ist der Kutschenberg – ein Berg.

Und wissen Sie was?, sagt Uschner. „Wir sprechen hier ja nordosterländisch. Aber direkt hinter dem Berg geht das los, das mit dem ‚nu‘, das Sächsische. Wir sind hier also auch an einer Dialektgrenze. Und außerdem trinkt halb Berlin das Mineralwasser von hier.“

Sie haben den besten Fleischer, einen Europameister in der Disziplin Wurstmachen

Das ist exakt die Methode Schmöhl. Wissen, sammeln, weitererzählen, herzeigen. Wenn in der Erzählung auch ein Rekordberg vorkommt, schadet das nicht. Vielleicht landet jeder Heimatkundler irgendwann mal da – und bei der Feststellung, dass es ihm kein bisschen darum gehen sollte, Orten wie Weimar ein paar tausend Touristen abzunehmen, damit die bei ihm vielleicht ein Schnitzel essen, etwas Geld dalassen. Dass es nicht um die Konkurrenz zwischen den einzelnen Gegenden geht. Es geht um die Nachbarn, die Heimatbesiedler. Die sollen wissen, wo sie eigentlich leben.

Seine Neuvermessung indes hat keinen einzigen Pfarrer aufhalten können und auch keine Schulschließung verhindert. Womöglich, sagt Uschner, hat sie ein paar Dresdner angelockt, zum Pilzesuchen. Aber es sei eben eine „von den vielen kleinen Sachen gewesen, die sich hier bei uns verbergen und die Aufmerksamkeit verdienen“. Im nahen Elsterwerda gebe es den besten Fleischer des Landes, einen achtmaligen Europameister in der Disziplin Wurstmachen. Haufenweise berühmte Söhne gebe es, „der Kapellmeister von Friedrich dem Großen stammt von hier“, sagt Uschner, „der Mann, der den großen Berliner Naturkundemuseums-Saurier ausgrub, auch“.

Na und?

Passen Sie auf, sagt Uschner. Wer genug solcher kleiner Sachen beisammen habe, mit dem geschehe etwas. Der fange nämlich an zu fragen: „Wie begreift man sich hier? Als Bewohner einer Region fernab, oder als Region mittendrin?“ Dass man darauf bald mit „mittendrin“ antworten kann, – selbst hier, am zumindest historisch gesehen willkürlich gewählten Rand einer bundesdeutschen Verwaltungseinheit, dem Bundesland Brandenburg – daran arbeitet er.

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