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Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag

© REUTERS/Annegret Hilse

Macht sich Deutschland zu locker?: Warum Merkel und Top-Virologen die Bundesländer so hart kritisieren

Viele Corona-Lockerungen sind „zu forsch“, findet Kanzlerin Merkel. Ihr Unbehagen über ein zu schnelles Shutdown-Ende teilen viele Experten. 

Von Ragnar Vogt

Die Lockerungen durch die Bundesländer wirken „forsch, zu forsch“ – Bundeskanzlerin Angela Merkel hat für ihre Verhältnisse ungewöhnlich deutlich die Landesregierungen kritisiert. Die Umsetzung der von Bund und Ländern gemeinsam beschlossenen Erleichterungen im Corona-Shutdown „bereitet mir Sorgen“, sagte sie am Donnerstag bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag. Weiter sagt sie: „Ich sehe es als meine Pflicht an, zu mahnen.“

Ganz Deutschland hatte herbeigesehnt, dass es nach den Wochen des Shutdowns endlich wieder Erleichterungen gibt - und jetzt wo sie da sind, sollen sie falsch sein? Was bringt die Kanzlerin zu dieser eindringlichen Mahnung an die Bundesländer? 

Die Begründung von Angela Merkel: Glücklicherweise habe zwar in Deutschland die Ausbreitung des Coronavirus‘ deutlich verlangsamt werden können. Aber: „Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern noch immer am Anfang“, mahnte sie. „Lassen Sie uns das Erreichte jetzt nicht verspielen und einen Rückschlag riskieren.“

So entbehrungsreich die Shutdown-Maßnahmen auch seien, sie müssten noch länger aufrecht erhalten werden. Das sei nicht nur im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung, sondern auch von Gesellschaft und Wirtschaft, erläuterte die Kanzlerin. Denn wenn man jetzt nicht noch länger diszipliniert sei, dann müsste Deutschland „von einem Shutdown zum anderen gehen“.

Corona-Pulsmesser: Besogniserregende Reproduktionszahl R

Das Unbehagen der Kanzlerin über möglicherweise zu schnelle Lockerungen wird auch von vielen Experten geteilt. Eine Zahl bereitet vielen besonders Sorgen: Die Reproduktionszahl R. Diese war zwischenzeitlich nach Schätzung vom Robert Koch-Institut (RKI) auf 0,7 gesunken, inzwischen liegt sie wieder bei 0,9. Das bedeutet, dass ein Corona-Infizierter im Schnitt 0,9 weitere Menschen ansteckt.

Das heißt: Die Zahl der Neuinfizierten sinkt. Der Wert ist damit aber auch gefährlich nahe an dem Grenzwert Eins – steigt die Zahl darüber, dann kommt es wieder zu einem exponentiellen Wachstum in Deutschland.

Ein großes Problem dabei – auch die Kanzlerin wies darauf hin: Die heutige Zahl der Neuinfektionen ist das Ergebnis des Infektionsgeschehens von ungefähr vor zwei Wochen. Steckt ein Infizierter heute jemanden an, dann wird es erst in etwa 14 Tagen von den Behörden registriert. Denn erstmal muss der Infizierte Symptome zeigen, dann getestet werden, dann muss das Ergebnis vorliegen und an die Behörden übermittelt werden. 

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Sollten die Lockerungen von dieser Woche also zu verstärkten Neuinfektionen führen, dann wird man es in der Woche vom 4. Mai registrieren – und erst dann gegensteuern können. „Die Situation ist trügerisch, wir sind noch immer nicht über den Berg“, sagte Merkel.

Virologe Drosten: „Sind dabei, unseren Vorsprung zu verspielen“

Zuvor hatten mehrere Virologen die Lockerungen kritisiert. „Ich bedauere es in diesen Tagen so sehr, dass wir vielleicht gerade dabei sind, unseren Vorsprung in Deutschland komplett zu verspielen“, sagte der Charité-Virologe und Coronavirus-Experte Christian Drosten in seinem NDR-Podcast. Die Bundesrepublik stehe gut da, weil sie früh viel getestet habe – doch das stehe nun auf dem Spiel: „Jetzt sehen wir diese Geschichten von Einkaufsmalls, die wieder voller Leute sind“, sagte Drosten.

Wären die vergleichsweise milden Shutdown-Maßnahmen noch ein paar Wochen länger fortgesetzt worden, dann hätte die Reproduktionszahl auf vielleicht 0,2 gedrückt werden können, vermutet Drosten. Und mahnte: Auch mit Masken und dem geforderten Abstand dürfe es weiterhin keine größeren Versammlungen geben.

Kritik an Corona-Maßnahmen auch von Helmholtz-Virologin Brinkmann

Die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig brachte gegenüber dem „Spiegel“ noch einen anderen Aspekt ins Spiel. Die Lockerungen könnten viele missverstehen: Sie könnten nun denken, man müsse nicht mehr so strikt die Regeln beachten, weil man ja bereits über den Berg sei. 

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„Die Regierung hat mit den Lockerungen nun ein falsches Signal gesendet“, kritisierte Brinkmann. Sie befürchtet, „dass viele das Virus jetzt nicht mehr so ernst nehmen und wieder mehr Kontakte treffen.“ Das sei gefährlich denn: „Wenn das passiert, stehen wir bald wieder da, wo wir am Anfang standen.”

Sollte es dagegen gelingen, die Reproduktionszahl gegen Null zu drücken, dann könnten beinahe alle Infektionsketten nachvollzogen werden. Und dann könne man wieder zu einem halbwegs normalen Leben zurückkehren. Das deutete auch die Kanzlerin an – Merkel mahnte: „Das ist eine Langstrecke, bei der uns nicht zu früh die Luft ausgehen darf.“

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