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Junge Londoner protestieren gegen Johnsons Abschiebegesetz.

© Vuk Valcic/imago

Londons Abschiebepakt mit Ruanda: Die Flüchtlingspolitik kennt keinen Brexit

Hundert Millionen Flüchtlinge weltweit, und London schiebt ins arme Ruanda ab, eh Hauptaufnahmeland Afrikas. Aber die EU handelt ebenso schäbig. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

Es gibt noch gute Nachrichten, diese zum Beispiel: Brexit- Britain gehört weiter zu Europa! Vielleicht nicht in den EU-Institutionen. Aber ganz sicher hängt das Vereinigte Königreich den viel beschworenen gemeinsamen Werten an. Die Idee, sich Schutzsuchender einfach zu entledigen, indem man sie nach Ruanda verfrachtet, egal woher sie stammen, ist nämlich authentische EU-Flüchtlingspolitik mindestens der vergangenen zehn Jahre.
2012 scheiterte zunächst der Plan, den man – seinerzeit Italien – für eine ideale Lösung des „Migrantenproblems“ hielt: lästige Flüchtlinge auf hoher See nicht aufzunehmen, sondern an der libyschen Küste abzusetzen. Danach hat sich die EU (namentlich ihre Mitgliedsstaaten) viel einfallen lassen, um die Lücken in der Festung Europa doch noch wasserdicht zu bekommen: Rücknahmeabkommen mit afrikanischen Staaten, die von Entwicklungshilfe und Zugang zum EU-Markt abhängig, also erpressbar sind. Auch Ruanda ist so eine ungleiche „Partnerin“ – nebenbei das afrikanische Land, das eh die allermeisten Flüchtlinge aufnimmt.

Rechtsbrüche à la Johnson sind EU-Alltag

Dazu kamen illegale Push-backs von Asylbewerber:innen an den EU-Grenzen, auf die sogar geschossen wird, die zurückgeprügelt werden. Bis hin zum Clou: Seit etwa fünf Jahren werden EU-Bürger:innen kriminalisiert, die Flüchtlinge auf See retten oder sie auch nur auf der Flucht bei sich beherbergen. Das gilt als Schleusung und kommt vor Gericht, unter Androhung hoher Geldstrafen.
Sarkasmus beiseite. Die wirklich gute Nachricht ist, dass wie schon 2012 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einschritt, der zum Ärger so manches Brexiteers in London noch immer etwas zu sagen hat, und in dieser Woche den Versuch der Regierung Boris Johnson stoppte, das Ruanda-Abkommen umzusetzen. Den ersten Abschiebeflug musste seine Innenministerin wegen des Straßburger Vetos absagen.

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Aber dieses Veto ist leider nicht mehr als ein Tropfen auf einen überheißen Stein. Der Rechtsbruch, den Straßburg gerügt hat, ist europäischer Alltag. An Europas Grenzen geschehen Verbrechen, und sie werden nicht verurteilt, ja nicht einmal vor Gericht gebracht. Menschen sterben, und das ist meist nicht einmal eine Kurznachricht wert – wenn es überhaupt entdeckt wird.

Eine EU-Behörde, die Grenzschutzagentur Frontex, macht mit oder schaut zu, und es dauerte trotz erdrückender Dokumentation der Rechtsbrüche quälend lange, bis wenigstens ihr Chef gehen musste. Was das tiefere Problem mit Frontex natürlich nicht löst. Die EU-Kommission scheint ihren Job als Hüterin der EU-Verträge längst aufgegeben zu haben, wenn es ums Grenzregime und Flüchtlinge geht.

Failing state Europa?

Straflosigkeit, zerfallende Strukturen, Verfolgung von Menschenrechtsverteidigern – so werden üblicherweise „failing states“ definiert. Zur Friedensnobelpreisträgerin EU passt das gar nicht. Und es wird auch im Innern der EU Folgen haben für Rechtsstaat und Demokratie. Die an den Grenzen prügeln und schießen, sind Bürger:innen Europas. Mit ihren Erfahrungen an den Grenzen kehren sie in Europas Gesellschaften zurück.
Hundert Millionen Menschen sind inzwischen weltweit auf der Flucht. Innerhalb nur eines Jahrzehnts hat sich ihre Zahl verdoppelt, auf das Mehr-als-Zweifache der Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs. Es ist höchste Zeit, Geld und vor allem Gehirn in einen menschlichen Umgang mit dieser Katastrophe zu stecken. Statt in Versuche – vergebliche –, sich ihr zu entziehen.

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