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Die Vorsitzende der Linken Janine Wissler beim Parteitag in Erfurt.

© dpa/Martin Schutt

Linken-Chefin überrascht bei Parteitag: Janine Wisslers Flucht nach vorn

Für die Linke steht beim Parteitag viel auf dem Spiel. Parteichefin Wissler hielt eine kämpferische Rede – und wurde vom Jubel der Delegierten überrascht.

Die Wandlung von Janine Wissler dauert etwas mehr als 30 Minuten. Als die Linken-Chefin beim Parteitag in Erfurt ans Rednerpult tritt, wird sie mit langem, gerade demonstrativem Beifall empfangen. Der Applaus bringt sie für einen Moment aus dem Konzept. „Wow, vielen Dank dafür“, sagt Wissler leise. Am Anfang ihrer Rede wirkt die Vorsitzende angespannt, was angesichts der vor ihr liegenden Herausforderung nicht weiter verwunderlich ist.

Sowohl für ihre Partei als auch für sie geht es in Erfurt um alles. Die Linke, die beinahe aus dem Bundestag geflogen wäre, muss einen Weg finden, ihren Absturz in die Bedeutungslosigkeit zu stoppen. Wissler steht vor einer Kampfkandidatur um den Parteivorsitz.

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Nach ein paar Minuten am Rednerpult legt sich Wissler richtig ins Zeug, sie ist laut, sie redet leidenschaftlich, und sie spricht Herzensthemen ihrer Partei an. Wissler erwähnt das Kind, das in Armut lebt, und die Rentnerin, die aus Angst vor der Gasrechnung ihre Wohnung nicht heizt.

Die Linken-Chefin fordert eine staatliche Energiepreisaufsicht und die stärkere Besteuerung von Übergewinnen von Firmen, die vom Krieg profitieren. Nicht nur, was sie sagt, ist für ihre Partei wichtig, sondern vor allem, wie sie es sagt. „Die Rede hatte Feuer“, sagt ein Delegierter später. Der kämpferische Ton kommt an beim Parteitagspublikum.

Immer wieder wird die Rede von Beifall unterbrochen, und von Applaus zu Applaus scheint Wissler an Selbstsicherheit und Kampfgeist zu gewinnen. Am Ende überschreitet sie ihre Redezeit deutlich und wird ermahnt. „Ich hatte mit etwas weniger Applaus gerechnet, das gebe ich ehrlich zu.“ Nach diesem Auftritt glaubt kaum noch jemand im Saal der Erfurter Messe, dass Wissler am Samstag als Parteichefin abgewählt werden könnte. Die Linke feiert ihre Chefin am Ende der Rede mit stehendem Applaus.

„Hören wir endlich auf mit der Selbstbeschäftigung! Lasst uns bitte um diese Partei kämpfen, und zwar mit aller Kraft“, hat Wissler ihren Parteifreunden zugerufen. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow wird in seiner Rede noch deutlicher: Die Linke habe nicht das Recht, sich den ganzen Tag mit sich selbst zu beschäftigen und zu überlegen, wie man einem anderen in der Partei ein Bein stellen könne.

Ramelow im Visier von Ultralinken

Ramelow selbst ist allerdings mit seinen Äußerungen zu Waffenlieferungen an die Ukraine ins Visier von Ultralinken geraten. Vor dem Beginn des Parteitages steht ein Mann mit einem großen roten Transparent vor der Messehalle in Erfurt. „Schmeißt EU/NATO-Unterstützer aus der Linken!“, ist darauf zu lesen.

Die Delegierten, die auf dem Weg von der Straßenbahn an dem Plakat vorbeikommen, können darüber nur lächeln. „Nato-Unterstützer haben wir doch gar nicht“, sagt ein Linken-Mitglied. Doch die Außen- und Sicherheitspolitik gehört zu den großen Konfliktthemen auf dem Parteitag. Das Verhältnis zu Russland nach dem Überfall auf die Ukraine ist zur Gretchenfrage der Linken geworden.

[Lesen Sie dazu auch: Kann Janine Wissler die Linke vor dem Untergang bewahren? (T+)]

Der Parteivorstand hatte einen Leitantrag vorgelegt, in dem die Linke zum russischen Überfall auf die Ukraine sehr deutlich Position bezieht: „Wir verurteilen den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands auf das Schärfste. Unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine, die leiden, Widerstand leisten oder flüchten müssen.“ Russland verfolge eine „imperialistische Politik“ und versuche seit Jahren, im postsowjetischen Raum „autoritäre Vasallen-Regime“ zu installieren.

Die Linken-Chefin Janine Wissler und der Co-Vorsitende Dietmar Bartsch.
Die Linken-Chefin Janine Wissler und der Co-Vorsitende Dietmar Bartsch.

© IMAGO/Jacob Schröter

Als Gegenspielerin des Vorstands brachte sich in dieser Frage vor dem Parteitag die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht in Stellung. Sie wollte Russland weder einen „verbrecherischen Angriffskrieg" noch „imperialistische Politik“ vorwerfen und beantragte im Vorfeld des Parteitages die Streichung dieser Passagen. In ihrem Gegenvorschlag heißt es, jeder Bruch des Völkerrechts müsse verurteilt werden, ob es „der jüngste Krieg Russlands gegen die Ukraine ist oder die völkerrechtswidrigen Kriege der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak, in Libyen und anderswo“. Es dürfe nicht länger „mit zweierlei Maß gemessen“ werden.

Berlins Kultursenator Klaus Lederer nannte Wagenknechts Sichtweise eine „Bankrotterklärung“. Die Kriege der USA in diesem Zusammenhang zu erwähnen, diene „nur der Relativierung des russischen Überfalls auf die Ukraine", sagte er der „taz“.

Showdown zwischen Wissler und Wagenknecht fällt aus

Der Showdown zwischen dem Parteivorstand um Wissler auf der einen und Wagenknecht auf der anderen Seite fällt in Erfurt aus, Wagenknecht sagte wegen Krankheit ihre Teilnahme ab. Doch bei dem Parteitag, der noch bis Sonntag geht, werden erbitterte Debatten zur Außen- und Sicherheitspolitik erwartet. In Parteikreisen geht man allerdings davon aus, dass das Wagenknecht-Lager für die kremlfreundlichen Positionen keine Mehrheit hat. Als Wissler in ihrer Rede vom „verbrecherischen Angriffskrieg“ Russlands und von der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine sprach, wurde sie von demonstrativem Beifall unterbrochen.

An diesem Samstag will sich die Linke auch personell neu aufstellen. Insgesamt bewerben sich zehn Personen um die beiden Plätze an der Parteispitze, nur vier von ihnen gelten als chancenreich. Wissler, die trotz parteiinterner Kritik an ihrem Umgang mit MeToo-Vorwürfen in Hessen noch einmal antritt, wird auf dem für Frauen reservierten Platz von der Linken-Bundestagsabgeordneten Heidi Reichinnek herausgefordert.

Die 34-jährige frauenpolitische Sprecherin gilt als Kandidatin der Fraktionsführung, welche in den vergangenen Jahren mal mehr, mal weniger mit der Parteispitze im Konflikt stand. Um den anderen Platz in der Doppelspitze konkurrieren der Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann und der EU-Abgeordnete Martin Schirdewan.

Wissler hat bereits erkennen lassen, dass sie sich eine Doppelspitze mit Schirdewan wünscht. Pellmann, der bei der Bundestagswahl sein Direktmandat in Leipzig verteidigte und damit seiner Partei trotz ihres desaströsen Ergebnisses den Wiedereinzug in den Bundestag sicherte, ist Wagenknechts Wunschkandidat.

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