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Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell am 19. Juni beim libanesischen Präsidenten Michel Aoun.

© AFP

Libanons Verfall nimmt historische Ausmaße an: Die politischen Eliten schauen nur zu

Wohl erstmals will die EU Sanktionen wegen verbummelter Regierungsbildung verhängen - gut so. Dort läuft zu viel falsch. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Andrea Nüsse

Wann hat es das schon einmal gegeben? Sanktionen werden oft verhängt, um Verstöße gegen internationale Regeln zu ahnden (aktuell die Entführung eines Passagierflugzeugs nach Belarus). Im Falle Libanons droht die EU jetzt libanesischen Politikern mit Einreiseverboten und dem Einfrieren ihrer Guthaben, weil sie – das dürfte Neuland sein – seit neun Monaten eine Regierungsbildung verschleppen.

Diese kleine Drohkulisse hat der Außenbeauftragte Borrel bei seinem jüngsten Besuch in Libanon vor den Gesprächspartnern aufgebaut – und das ist mehr als gut so. Denn so lange es keine Regierung gibt, kann keine internationale Hilfe anlaufen, die vor allem in einer Umschuldung bestünde.

Und so stürzt das libanesische Pfund immer weiter, um 80 Prozent, so dass das traditionelle Pizzabrot Manouscheh jetzt umgerechnet 8,60 Dollar kostet statt einem Dollar. Die Beiruter stehen stundenlang in der Hitze an den Tankstellen an, um einige Liter Benzin zu kaufen. Die schiitische Hizbollah, die in Libanon an der Regierung beteiligt ist, richtet eigene Supermärkte mit irakischen, iranischen und syrischen Produkten ein, wo Inhaber einer Karte monatlich fünf Kilo Reis und fünf Liter Öl und einiges mehr zu reduzierten Preisen kaufen können.

Die Weltbank hat Anfang Juni der libanesischen Wirtschafts- und Gesellschaftskrise die zweifelhafte Auszeichnung verliehen, weltweit voraussichtlich zu den drei schwersten Krisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu gehören (mit Ausnahme von Kriegen).

Die politischen Akteure haben Angst voreinander - und tun daher nichts

Schuld an der Hängepartie sind Staatspräsident Aoun (Christ) und der designierte Premier Hariri (Sunnit): Sie können sich nicht auf eine Kabinettsliste einigen, vor allem um den zukünftigen Justizminister gibt es ein Ringen. Das Misstrauen ist gigantisch und vor allem die Angst vor Aufdeckung der Korruption auf höchster politischer Ebene und im Staatsapparat.

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Als wenig hilfreich haben sich jedoch auch die vollmundigen Reformversprechungen herausgestellt, die Frankreichs Premier Macron nach der verheerenden Explosion im Beiruter Hafen im August 2020 fernsehwirksam gab – unter Verkennung des offensichtlich geschwundenen Einflusses der früheren Protektoratsmacht auf Libanon. Er setzte auf die alten Eliten des konfessionellen Proporzsystems, die eine Technokratenregierung einsetzen sollten mit Reformauftrag, was grandios scheiterte.

Scooter-Fahrer warten an einer Tankstelle in Beirut und haben die Nase vom Benzinmangel voll.
Scooter-Fahrer warten an einer Tankstelle in Beirut und haben die Nase vom Benzinmangel voll.

© JOSEPH EID / AFP

Dieses Vorgehen würgte die beeindruckenden Massenproteste der Bürger, insbesondere der jungen Libanesen, ab; sie hätten eventuell Reformen in Richtung Überkonfessionalität erzwingen können. Das US-Magazin „Foreign Affairs“ geht denn auch hart mit Macron ins Gericht und nennt ihn „naiv“. Die Zeitschrift spricht von einem „Nervenkrieg“, bei dem die libanesischen Strippenzieher darauf setzten, dass die Lage ihrer eigenen Bevölkerung so unhaltbar wird, dass Frankreich und die EU aus moralischen Gründen zu Hilfe kommen müssen – ohne politische Reformen.

Das ist an Zynismus und Eigennutz kaum zu überbieten. Die EU sollte genau hinschauen und massiver nachhaltige Projekte in der Zivilgesellschaft unterstützen: Die überkonfessionell ausgerichtete Partei „Minteschreen“, die sieben junge Leute aller Konfessionen am 1. Juni offiziell registriert haben, wäre so ein winziger Hoffnungsschimmer auf lange Sicht.

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