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In der libanesischen Hauptstadt Beirut sind die Spannungen rund um die Ermittlungen zur Explosionskatastrophe vom August 2020 eskaliert.

© Imago

Libanon am Abgrund: Die Angst vor einem Bürgerkrieg wächst

In Beirut sterben nach Schießereien sieben Menschen – die Hisbollah macht eine christliche Miliz verantwortlich. Die Gewalt könnte noch weiter eskalieren.

Nach einem Tag voller Gewalt sprach der libanesische Präsident Michel Aoun aus, was viele der sieben Millionen Menschen in seinem Land befürchten. Die Schießereien in der Hauptstadt Beirut, bei denen bis jetzt sieben Menschen starben, erinnerten an die Zeit, „die wir nicht vergessen und nie mehr erleben wollten“, sagte Aoun. Er meinte den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, der mehr als hunderttausend Menschen tötete und das Land verwüstete.

Nun wächst die Angst vor einem neuen Krieg. Die tödliche Konfrontation zwischen schiitischen und christlichen Milizen am Donnerstag entzündete sich an einer Demonstration gegen den Ermittlungsrichter Tarek Bitar. Er will herausfinden, wer für die Explosion von tausenden Tonnen Ammonium-Nitrat im Beiruter Hafen verantwortlich war, die im vergangenen Jahr 200 Menschen tötete und Teile der Stadt zerstörte. Die schiitische Hisbollah-Miliz wirft Bitar anti-schiitische Tendenzen vor.

Heckenschützen eröffneten das Feuer

Während der Demonstration der Hisbollah gegen Bitar eröffneten Heckenschützen das Feuer auf die Menge. Die Hisbollah macht die christliche Miliz Lebanese Forces (LF) verantwortlich. Ein klares Dementi gab es von der LF nicht. Am Freitag blieben Schulen, Banken und Behörden geschlossen.

Von einem „gefährlichen Momentum“ spricht Kristof Kleemann, Leiter des Beiruter Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung. Seine Wohnung liegt weniger als einen Kilometer von dem Platz entfernt, auf dem am Donnerstag gekämpft wurde – er konnte die Schüsse hören. „Viele fühlen sich an den Beginn des Bürgerkrieges erinnert“, sagte Kleemann am Freitag dieser Zeitung.

Die Schießerei an einer Grenzlinie zwischen schiitischen und christlichen Gebieten von Beirut war nach seiner Einschätzung auch eine Machtdemonstration der christlichen LF gegenüber der Hisbollah. Er glaube aber nicht, dass ein neuer Bürgerkrieg unmittelbar bevorstehe: Keine der Konfliktparteien habe derzeit ein Interesse an einem Krieg.

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Das gilt auch für die Hisbollah, die mit ihren tausenden Kämpfern und ihrem riesigen Waffenarsenal im Libanon einen Staat im Staat bildet und ihre Machtposition nicht zuletzt der derzeitigen politischen Ordnung verdankt. In dem kleinen Land teilen sich Schiiten, Sunniten, Christen und Drusen nach einem ausgeklügelten Schlüssel die Macht. Dieses System sollte dem Staat Stabilität verleihen, führte aber zu Korruption und Machtmissbrauch.

Niemand wurde bisher zur Rechenschaft gezogen

Wegen einer Finanz- und Wirtschaftskrise steht der libanesische Staat vor dem Kollaps, Millionen Libanesen sind in Armut abgerutscht. Die Explosion von Beirut wurde zu einem Symbol dieses Staatsversagens: Trotz der vielen Toten und gewaltigen Zerstörungen ist bisher niemand zur Rechenschaft gezogen worden.

Bitars Ermittlungen könnten zu heftigen Konflikten führen, sagte Kleemann. Die Hisbollah und die mit ihr verbündete Amal-Partei fühlten sich durch die Nachforschungen bedroht, weil dabei für sie nachteilige Dinge herauskommen könnten. Nach Medienberichten war das Ammonium-Nitrat, das im Hafen explodierte, für die Hisbollah bestimmt.

Doch nicht nur die Hisbollah hat viel zu verlieren. Richter Bitar könnte „das gesamte politische System im Libanon in Frage stellen“, sagt Kleemann: Bisher hätten die politischen Akteure trotz aller Differenzen stets verhindert, dass die politische Elite für Missstände Rechenschaft ablegen musste. Wenn Bitar die ganze Wahrheit über die Explosion ans Licht bringen sollte, könnte dies das System ins Wanken bringen.

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