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Lust an der Provokation. Der Angeklagte André E. hält im  September 2014 Fotografen im NSU-Prozess ein Horrorbild entgegen. Der Bundesgerichtshof befasst sich nun mit der Revision des Neonazis

© Peter Kneffel/picture alliance / dpa

Letzte Revision gegen NSU-Urteil: Neonazi André E. muss um seine Freiheit bangen

André E. war mutmaßlich Kumpan der Terrorzelle, doch er kam im NSU-Prozess mit einem milden Urteil davon. Nun nimmt sich der Bundesgerichtshof den Fall vor.

Von Frank Jansen

Er war der optisch abstoßendste Angeklagte im NSU-Prozess, aber auch der cleverste. André E. sagte die ganzen 438 Verhandlungstage kein einziges Wort und vermied so, sich in Widersprüche zu verwickeln. Doch die Tätowierungen des Neonazis, die im Oberlandesgericht München bei der Beweisaufnahme auf Fotos gezeigt wurden, waren eine deutliche Sprache.

Auf dem Bauch des Angeklagten prangt die Parole „Die Jew Die“ (Stirb Jude stirb) neben Runen, Pistolen und anderem  Gegrusel. 

Der Anwalt von André E. betonte im Plädoyer, sein Mandant sei „Nationalsozialist, der mit Haut und Haaren zu seiner politischen Überzeugung steht". Der Fanatismus paart sich zudem mit Kaltschnäuzigkeit. Obwohl André E. in München vor Gericht stand, prügelte er im Mai 2016 in Zwickau einen jungen Mann.

Das Amtsgericht Zwickau verurteilte den Neonazi im Mai 2017 zu einer Geldstrafe. Umso überraschender wirkte das milde Urteil im NSU-Prozess.

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Der 6. Strafsenat unter Vorsitz von Manfred Götzl verhängte am 11. Juli 2018 gegen den mutmaßlich engsten Kumpan der Terrorzelle nur zweieinhalb Jahre Haft. Das war die geringste Strafe im NSU-Prozess.

Beate Zschäpe erhielt lebenslang, drei weitere Angeklagte bekamen Haftstrafen zwischen drei und zehn Jahren. Doch André E. war aus Sicht der Richter nur wenig nachzuweisen. Auf der Besuchertribüne jubelten Neonazis. Und André E. konnte nach mehreren Monaten Untersuchungshaft das Gericht als freier Mann verlassen.

Die Angehörigen der Opfer des NSU waren entsetzt. Das Urteil vom 11. Juli 2018 ist allerdings im Fall des heute 42-jährigen André E. immer noch nicht rechtskräftig.

Die Bundesanwaltschaft, die zwölf Jahre Haft gefordert hatte, legte Revision ein. Das tat auch der Berliner Verteidiger von André E., Herbert Hedrich, weil er einen Freispruch für angemessen hielt. Am Donnerstag befasste sich nun der Bundesgerichtshof in Karlsruhe mit dem noch offenen strafrechtlichen Kapitel aus dem NSU-Prozess.

Da die Revision von Verteidigung und Bundesanwaltschaft kam, wurde eine mündliche Verhandlung vor der Entscheidung Mitte Dezember notwendig. Der Saal war gefüllt, André E. kam allerdings nicht. Obwohl es für ihn um viel geht. Sollte der 3. Strafsenat des BGH der Revision der Bundesanwaltschaft folgen, müsste sich André E. vermutlich nochmal einem Prozess in München stellen und hätte eine deutlich höhere Strafe zu erwarten.

Die Vertreter der Bundesanwaltschaft trugen vor, dass sie André E. für einen Komplizen halten, der Zschäpe und ihren Kumpanen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos schon kurz nach dem Untertauchen 1998 zur Seite stand. Im November 2000 mietete der Neonazi dann ein Wohnmobil – nach Ansicht der Bundesanwaltschaft im Wissen, dass Böhnhardt und Mundlos zu einem Raubüberfall fuhren.

Die Terroristen erbeuteten in einer Chemnitzer Postfiliale 38.900 D-Mark. Im Dezember 2000 soll André E. wieder mit Täterwissen ein Wohnmobil gemietet haben, diesmal reisten Böhnhardt und Mundlos nach Köln. Einer der beiden hinterließ in einem iranischen Lebensmittelgeschäft eine Christstollendose mit einer Bombe. Sie explodierte, als die Tochter des Einzelhändlers im Januar 2001 die Dose öffnete. Die Frau wurde schwer verletzt.

Zur Verhandlung beim BGH kamen nun auch als Vertreterinnen der Nebenklage die beiden Anwältinnen der iranischen Familie, Edith Lunnebach und Christina Clemm. Lunnebach betonte, für ihre Mandanten bleibe nach dem Münchener Urteil "der schale Geschmack der Ungerechtigkeit".

Neonazi gab Zschäpe als seine Ehefrau aus

Im September 2003 soll André E. dem NSU zudem ein Wohnmobil für einen weiteren Raubüberfall gemietet haben. Böhnhardt und Mundlos attackierten eine Filiale der Sparkasse in Chemnitz, kamen allerdings mit nur 435 Euro wieder heraus. Im Januar 2007 soll André E. zudem verhindert haben, dass der NSU in Zwickau aufflog.

Der Neonazi begleitete Beate Zschäpe zu einer Vernehmung bei der Polizei und gab sie als seine Ehefrau Susann E. aus. Es ging um eine Diebstahlsgeschichte, Zschäpe wurde als Zeugin befragt. Der Polizeibeamte ließ sich täuschen. Hätte er Zschäpes wahre Identität recherchiert, wäre herausgekommen, dass die Frau und ihre Kumpane Böhnhardt und Mundlos seit dem 1998 wegen Bombenbastelei gesucht wurden.

Von 2009 bis 2011 soll André E. bei der Deutschen Bahn insgesamt sechs Bahncards 25 beantragt haben, auf seinen Namen und den seiner Ehefrau. Auf die Karte für André E. kam jedoch das Lichtbild von Böhnhardt, auf die Bahncard für Susann E. das Foto von Zschäpe. Böhnhardt und Zschäpe konnten so mit der Bahn ermäßigt reisen ohne befürchten zu müssen, enttarnt zu zu werden.

Das Oberlandesgericht München verurteilte André E. allerdings nur wegen der Bahncards. Die Richter gingen davon aus, dass die Mitglieder des NSU erst im Januar 2007, nach dem Auftritt von André E. und Zschäpe bei der Polizei in Zwickau, den Helfer über ihren „politischen Kampf“ und die Mordanschläge informierten.

So hatte Zschäpe im NSU-Prozess ausgesagt - womöglich eine Finte, um André E. vor dem Vorwurf zu schützen, schon viel länger der Terrorzelle geholfen zu haben. Die Münchener Richter glaubten die Geschichte dennoch.

Fielen die Münchener Richter auf eine Finte von Zschäpe herein?

Demnach war André E..erst bei der Beschaffung der Bahncards klar, dass er eine Terrorgruppe unterstützte und sich strafbar machte. Die Bundesanwaltschaft wie auch die Nebenkläger halten das für realitätsfern, da André E. und seine ebenfalls rechtsextreme Ehefrau schon lange mit Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos befreundet waren.

Das Paar wusste natürlich, dass die drei sich versteckt hielten. Der Münchener Strafsenat wollte aber offenbar nicht das Risiko eingehen, der Bundesgerichtshof könnte ein hartes Urteil gegen André E. als rechtsfehlerhaft bewerten und aufheben.

Bundesanwalt Jochen Weingarten bezeichnete jedoch am Donnerstag die Beweiswürdigung der Münchener Richter als "rechtsfehlerhaft". Für die Ankläger bleibt schleierhaft, warum im Urteil nicht thematisiert wurde, dass André E. nicht schon vor dem Gespräch vom Januar 2007 mit Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos hätte wissen können, dass die drei Untergetauchten gar nicht in der Lage waren, sich legal zu finanzieren. Und dass sie an Sprengstoff herankommen konnten, wie sich schon vor dem Abtauchen 1998 gezeigt hatte.

Der Verteidiger von André E. plädierte hingegen erneut auf Freispruch. Die Bahncards 25, die André E. dem NSU verschafft hatte, seien doch nur "eine Rabattkarte" gewesen und kein "behelfsmäßiger Identitätsnachweis", sagte Anwalt Hedrich.

Wie der BGH die Argumente von Bundesanwaltschaft und Verteidigung bewertet, bleibt offen. Der Vorsitzende Richter des 3. Strafsenats, Jürgen Schäfer, deutete allerdings leise Zweifel an. Man müsse aufpassen, dass man bei der Untersuchung der Revision "nicht ebenso kleinteilig" vorgehe wie die Antragsteller.

Und Schäfer nahm indirekt die Münchener Richter mit der Bemerkung in Schutz, "die Beweisbegründung muss in einem Urteil nicht erschöpfend sein". Andererseits betonte Schäfer, der Senat müsse sich jetzt erst seine Meinung bilden. Am 15. Dezember soll die Entscheidung verkündet werden.

Zschäpe beschwert sich beim Bundesverfassungsgericht

Die Schuldsprüche gegen Beate Zschäpe und die Mitangeklagten Ralf Wohlleben und Holger G. hatte der Bundesgerichtshof im August ohne Verhandlung bestätigt. Das OLG München hatte Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt und ihr eine besondere Schwere der Schuld bescheinigt. Somit kann Zschäpe nicht nach 15 Jahren das Gefängnis verlassen. Die NSU-Frau findet sich allerdings mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs nicht ab und hat Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht - weil ihr Fall nicht, wie der von André E., beim BGH verhandelt wurde.

Ralf Wohlleben, der dem NSU die Tatwaffe Ceska 83 beschafft hatte, erhielt im NSU-Prozess zehn Jahre Haft. Mit der Ceska erschossen Böhnhardt und Mundlos neun Menschen türkischer und griechischer Herkunft. Wohlleben kam allerdings kurz nach dem Münchener Urteil wegen langer Untersuchungshaft frei. Wohlleben ist weiter in der rechten Szene unterwegs, Sicherheitskreise berichten auch von Treffen mit André E.

Der Angeklagte Holger G., ein Unterstützer des NSU, wurde zu drei Jahren verurteilt. Der einzige umfassend geständige und reuige Angeklagte, Carsten S., der an der Beschaffung der Ceska beteiligt gewesen war, erhielt drei Jahre Haft. Er zog 2019 die Revision zurück und verbüßte die Reststrafe.

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