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Das war's. Die FDP muss raus aus dem Bundestag.

© dpa

Letzte Fraktionssitzung: Wie sich die FDP aus dem Bundestag verabschiedet

Die Liberalen haben fast immer regiert. Jetzt steht die FDP vor dem Nichts, die größte Fraktion ihrer Geschichte hat sich aufgelöst. 600 Mitarbeiter packen Kisten im Bundestag und stehen Schlange vor der Tür der Arbeitsagentur.

Von
  • Katrin Schulze
  • Antje Sirleschtov

Zum Schluss gibt es eingetrocknete Sahneschnittchen und ein kitschiges Holzmännlein aus dem Erzgebirge. „Hoffnung, Beharrlichkeit und Gottvertrauen“ steht drauf. Als ob eine der drei Bergmannstugenden irgendwas geändert hätte. Und Tränen? Auch. Aber nicht so viele, wie man annehmen durfte und wenn, dann still ins Taschentuch. Wer so gehasst wird wie die FDP, der stirbt wohl aufrecht und stolz. Es ist Dienstag, der 8. Oktober 2013 und um 15 Uhr beginnt unter der Reichstagskuppel etwas, worüber man später in Geschichtsbüchern wird lesen können: Zum letzten Mal trifft sich die Bundestagsfraktion der FDP.

Sie ist aus dem Parlament geflogen. Letzte Woche war einer im Blaumann hier und hat den Saal ausgemessen. Ihren Fraktionssaal. Neuer Teppich soll vielleicht rein. „Freiheit bewegt“ steht an den blau-gelben Wänden und: FDP. Noch ein paar Tage, dann leuchtet hier alles rot. Die Linksfraktion zieht ein. Erst Neoliberalismus, dann Kommunismus: So ist es in der Politik eben manchmal. Wolfgang Gerhardt, er war auch mal FDP-Chef, krächzt heiser etwas von „Rückkehr 2017“. Reale Chance, muss man jetzt nutzen, alles wird gut werden und solche Sachen. Durchhalteparolen! Was soll man auch sagen an so einem Tag. Die Wahrheit? Wer kennt die schon. „Mit einem, der aussieht wie ein Vietnamese, da kann man keine Wahl gewinnen“, sagt ein Sachse. Er musste das mal loswerden, wenigstens zum Schluss. „Ist doch wahr, was soll man da ’rumreden“. Bitterkeit am Ende.

Sie hat fast immer regiert, diese FDP

Was es wirklich bedeutet für diese Republik, dass es nun keine FDP mehr im Bundestag gibt, das wird man wohl erst in ein paar Monaten merken. Oder vielleicht auch gar nicht. Vielleicht sind 65 Jahre Parlamentarismus ja genug für die Liberalen. So lange hatte die FDP nämlich Abgeordnete im Bundestag sitzen. Mal nur 31, das war 1969, als die Liberalen mit 5,8 Prozent schon mal knapp am Rauswurf vorbeigeschrammt waren. Und dann 93, zum Schluss, quasi als krönendes Ende der parlamentarischen Geschichte. 93 Abgeordnete nach dem fulminanten Sieg bei der Bundestagswahl 2009. 14,6 Prozent, das war Rekord. Damals wurde es eng im Fraktionssaal, den der Bundestag den Gelb-Blauen ganz oben zugewiesen hatte. Wie in einer Sardinenbüchse haben sie gesessen. Und stolz waren sie wie Bolle. Die Kleinen ganz groß. Westerwelle trug die Nase hoch und träumte von der „geistig politischen Wende“. Leider sagte er solche Sätze auch laut, was das Ende beschleunigte. Doch dazu später mehr.

Zunächst eine klitzekleine Verbeugung. Vor dieser FDP, die jetzt Kisten packt. Wer ein Gefühl dafür bekommen will, was diese Partei für Deutschland war, der muss nur mal kurz in seine eigene Geschichte hineinhorchen: „Hoch auf dem gelben Wagen“. Na, von wem ist das? Richtig: Walter Scheel. Der kleine grauhaarige Präsident hat das Lied 1973 aufgenommen, um Spenden zu sammeln. Da war er noch gar nicht Staatsoberhaupt. Aber regiert hatte er schon eine Weile. Mit Willy Brandt und Helmut Schmidt. Große Namen der deutschen Geschichte. Immer war die FDP irgendwie dabei. Scheels Lied wurde ein Hit, jedes Kind kennt es. Auch die aus der DDR. Überhaupt: Regiert hat diese FDP eigentlich fast immer.

Öde war die Partei nie

42 Jahre lang, entweder mit Adenauer und seiner CDU oder eben mit der SPD. Keine Partei saß länger auf der Regierungsbank. Irgendwie ist deutsche Politik ohne die Liberalen nicht gegangen: Entspannungspolitik, Ostverträge, Deutsche Einheit. Immer waren die Liberalen dabei. Mancher meint gar, die Bonner Republik ohne die FDP, das hätte es gar nicht geben können. Zu dicke aufgetragen? Weiß noch einer, wie Scheels NSDAP-Mitgliedschaft ’rauskam und plötzlich klar wurde, wie verstrickt die Alten mit der neuen demokratischen Ordnung wirklich waren? Das war natürlich lange, nachdem die FDP Anfang der Fünfziger ihren „Schlussstrich“-Wahlkampf geführt hatte. „Bürger 2. Klasse“, was sie meinten, dass die mit dem NS-System Verstrickten waren, sollte es nicht mehr geben.

Ja, auch das war die FDP. Oder der „Große Lauschangriff“: Eine kleine etwas rundliche Frau mit dicker Perlenkette nahm demonstrativ ihren Hut, weil eine – wenn auch knappe – Mehrheit ihrer Partei für das Recht der Polizei auf Abhören von Wohnungen stand. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Jeder kennt die Story, wenn er sich auch nur ein bisschen für Politik interessiert hat. Oder den Grafen Lambsdorff. Und dann der Selbstmord Jürgen Möllemanns. Und die „18“ auf der Schuhsohle von Guido Westerwelle, Spaßpartei, ein Politiker im Big-Brother-Container: Es gibt Dutzende solcher Geschichten und Anekdoten, die die FDP weit über den Kreis des politischen Establishments hinaus bekannt gemacht hatte. Und Frauen und Männer, die für ihre Überzeugung gelebt haben und das auch ausstrahlten. Bisschen verrückt waren sie, diese Liberalen. Aber nie öde.

In den Büros wird das Drama greifbar

Der letzte Große unter ihnen, Westerwelle, ist an diesem Dienstag sehr leise. Er hat die Partei von Wolfgang Gerhardt 2001 übernommen, er wollte allen zeigen, wie man aus einer Apothekerpartei eine Volksbewegung macht. „Einfach, niedrig und gerecht“, hat er den Deutschen ihr Steuersystem versprochen. Die sind ja bekanntlich geizig und fanatische Steuersparer. Westerwelle ganz vorn im September 2009. Um 18 Uhr riss er an jenem Herbstsonntag die Arme hoch. Für ihn hatte sich ein Lebenstraum erfüllt. Ausgerechnet er, den sie immer ein bisschen schräg von der Seite angesehen hatten in dem hohem Hause. Der so schneidig reden konnte, dass es manchem angst und bange wurde. Ausgerechnet ihm war es gelungen, seine FDP in den Olymp zu führen. Siegestaumel mit Michael Mronz, seinem Lebenspartner, alle Verachtung und all der Hass seiner Leute auf ihn war plötzlich wie weggeblasen. Überall im Land packten Liberale ihre Koffer und zogen nach Berlin. Mancher hatte überhaupt nicht mit einem Sitz im Bundestag gerechnet, musste Job und Partner und auch Kinder von einem Moment zum anderen zurücklassen. Nun ist alles vorbei.

Am 22. Oktober kommen die Neuen

Wie sich das anfühlt? Sehen wir mal hinein in das Bundestags-Büro eines Abgeordneten der FDP. Hier, wo sie oft mehr Zeit verbrachten als bei der Familie, wird dieser Absturz, dieses Drama der Partei greifbar. Denn hier droht die Deadline. Bis zum 22. Oktober muss alles geräumt sein, damit der nächste Abgeordnete einziehen kann. Die FDP schafft sich ab im Bundestag. Draußen am Eingang zu seinem Büro lächelt Patrick Kurth noch von einem Plakat. Drinnen, mitten in einem kleinen Chaos, ist seinen Mitarbeitern das Lachen lange vergangen. Sie sitzen zwischen Umzugskisten und Aktenbergen, reißen Ordner auseinander und sortieren den gesammelten Wust der vergangenen Jahre, wobei mancher in diesen Tagen immer noch mehr damit zu tun hat, sich selbst zu sortieren.

Patrick Kurth überlegt auf seinem Ledersessel, wie er es am besten ausdrücken soll. „Ich habe viele Ideen, aber keinen konkreten Plan“, sagt er dann. Aus dem überzeugenden Wahlkampflächeln ist ein gequältes Kampflächeln geworden. Er schaut mit seinen müden braunen Augen durch sein Reich. An dem Fernseher vorbei, der schweren Goethe-Skulptur, den vielen Bildern und dem riesigen hölzernen Schreibtisch in der Mitte, der von seinem Vorgänger übrig geblieben ist aus guten alten Bonner Zeiten. Seit elf Jahren arbeitet der 37 Jahre alte Thüringer in den Räumen Unter den Linden, zunächst als Helfer für einen Abgeordneten, dann selbst als Abgeordneter. Seit er sein Magister-Studium der Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Neueren Geschichte abgeschlossen hat, ist Kurth in der parlamentarischen Arbeit tätig gewesen. Er hat beruflich nicht viel anderes kennengelernt, er kennt sich auf keinem anderen Gebiet so gut aus.

Die erste Reaktion am Morgen nach dem Wahltag

Okay, Lkw ist er einmal gefahren, als Tagesfernfahrer, um sich etwas dazuzuverdienen in den Semesterferien. Doch das wäre nun vielleicht nicht die erste Alternative für ihn. „Ich hatte nicht geplant, den Beruf zu wechseln“, sagt er. „Aber ich wusste, dass es passieren kann.“ Schon bei Umfragen vor der Wahl sah es nicht gut aus für die Liberalen in Thüringen, da half Kurth auch der Generalsekretärsposten und Listenplatz eins in dem Bundesland nichts. Dass allerdings gleich die ganze Fraktion rausfliegt aus dem Bundestag, damit hatte kaum jemand gerechnet. Noch am Wahlabend fängt es an zu rattern in seinem Kopf: Und nun? Abgeordnetenposten weg. Eine mögliche alternative Arbeit in der Fraktion nicht möglich. Was bleibt da noch? Die erste öffentliche Reaktion gibt er am Tag danach gegen 10 Uhr per Twitter ab: „Geht von Bord. Es ist bitter, aber ich bin dankbar, die letzten Jahre erlebt und mitgestaltet zu haben. Im Bundestag wird sich viel ändern.“

93 Abgeordnete, die nun ausziehen. Müssen. Sie alle haben drei bis vier Helfer, dazu kommen Angestellte bei der Fraktion. Und so suchen etwa 600 Mitarbeiter mit größtenteils befristeten Verträgen einen neuen Job. „Anschlussverwendung“ nannte das damals ihr aktueller Parteichef Philipp Rösler, als die Drogeriekette Schlecker aufgab und tausende Angestellte, vor allem viele Frauen neu anfangen mussten. Einen Tag nachdem klar ist, dass die FDP von vorne beginnen muss, funkt Patrick Kurth die Kollegen der Union per SMS und Telefon an und bittet sie darum, „Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern zu zeigen“. Nicht alle Abgeordneten haben Anstand bewiesen. Ja, auch das hat es gegeben in diesen Tagen: Mitarbeiter, um die sich keiner kümmert, die im Regen stehen bleiben. Der Abgeordnete, für den sie gearbeitet haben? Einfach abgereist. Überfordert? Selbst ohne Zukunft? Oder gleichgültig? Niemand weiß das.

Einige träumen vom Comeback, Brüderle nicht mehr

Für die Suchenden ist die Bundesagentur für Arbeit vor kurzem eingezogen in den Bundestag. Sie möchte an Ort und Stelle vermitteln. Die Pleite der FDP erscheint aus vermittlungstechnischer Sicht aber schwierig. Vor den Büros, in denen sich das Amt breitgemacht hat, bilden sich lange Schlangen. Die Verträge laufen Ende Oktober aus. Die Situation stellt sich für die Mitarbeiter eben deutlich schwieriger dar als für die Abgeordneten, die für maximal eineinhalb Jahre ein Übergangsgeld von 8252 Euro pro Monat erhalten. Patrick Kurth schaut in seinem Anzug, den er heute ohne Krawatte trägt, ein bisschen verdutzt und winkt ab. Das sei nichts, worauf man sich ausruhen solle, sagt er.

Der Generalsekretär der Partei, Patrick Döring, hat schon kurz nach der Wahl angekündigt, zurückzukehren zu seiner Arbeit bei einer Hannoverschen Versicherung, Patrick Kurth will bis Ende des Monats wissen, wie es weitergeht. Die ersten Jobangebote seien längst bei ihm eingetrudelt. Ein Vorteil, „wenn man einigermaßen in der Öffentlichkeit stand und klar ist, dass auch ich nach so einem Ergebnis auf Arbeitssuche bin“. Arbeitssuche, während man noch damit zu tun hat, den alten Arbeitsplatz abzuwickeln, zu „liquidieren“, wie es in Beamtendeutsch heißt: Da bleibt nicht mehr viel Zeit für anderes. In Ordnung ist hier seit dem 22. September ohnehin nichts mehr.

Geht doch noch was?

Die Blätter der Topfpflanze hängen in Kurths Büro mittlerweile bis auf den Fußboden, vor den riesigen Flaggen, die er aufgestellt hat, liegt eine Zigarettenschachtel, auf dem Schreibtisch steht eine leere Flasche Bier, die er sich am Vortag genehmigt hat, nachdem er bis spät abends entrümpelt und geräumt hatte. Schlechte, neue Zeit. Kurths Frau fühlt sich in der ersten Woche des neuen Lebens, als ihr Mann sich mit dem alten Chef Philipp Rösler auf ein Bier trifft und mit dem designierten neuen Chef Christian Lindner den Kontakt sucht, als beklage man einen Trauerfall in der Familie, und so falsch liegt sie da gar nicht. Für Kurth jedenfalls ist es bis heute noch schwer vorstellbar, wie der deutsche Bundestag „ohne liberale Stimme“ funktionieren soll. Und jetzt gerät er, der die ganze Zeit versucht hat, möglichst gelassen über den Abschied von der großen politischen Bühne zu reden, doch noch einmal in Rage: „Mit einer zu vernachlässigenden Opposition kann es doch zu gesellschaftlichen Veränderungen kommen, die man jetzt noch gar nicht abmessen kann.“

Deshalb wagt es Patrick Kurth noch nicht, sich festzulegen und sich an einen neuen Arbeitgeber zu binden. Er spielt mit dem Gedanken, sich selbstständig zu machen – in der Politikberatung oder als Journalist. Er will frei sein. Vielleicht geht ja doch noch was? Man stelle sich nur mal vor: Die Union wird weder mit der SPD noch mit den Grünen einig, es gibt Neuwahlen, die FDP, ein strahlendes Comeback …

Lindner, der neue: jung und smart

Rainer Brüderle träumt diesen Traum nicht mehr. 68 Jahre, noch bis Donnerstag kümmert er sich um die Abwicklung seiner Fraktion. Geld, Mitarbeiter, Akten. Dann ab nach Mainz, nach Hause zu seiner Frau. Seit dem schweren Sturz vor drei Monaten und den Operationen lebt er nur noch unter Schmerzmitteln. Eine Hand dauernd im Rücken. Es wird immer schlimmer. Jetzt will er in die Reha, ambulant. Übungen jeden Tag, Brüderle will ein Leben nach der Politik. Und die anderen?

In zwei Monaten werden sie Christian Lindner zum neuen FDP-Chef wählen. Der ist jung, sieht verdammt gut aus und sagt intelligent klingende Sachen. Vier Jahre hat er jetzt Zeit zu zeigen, was in ihm steckt. Dann kommt entweder einer im Blaumann und stellt wieder die alten FDP-Schilder im Bundestag auf. Lindner wäre dann der Allergrößte. Oder die Deutschen haben sich von der FDP endgültig verabschiedet. Dann macht er eben auch das letzte liberale Licht noch aus.

Dieser Text ist erschienen auf der Dritten Seite.

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