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Ein Stromerzeugungsblock im Kernkraftwerk Saporischschja in der Stadt Enerhodar im Süden der Ukraine (Archivbild)

© Olexander Prokopenko/AP/dpa

Lektionen aus der Geschichte: So groß ist die Gefahr einer Nuklearkatastrophe in der Ukraine

Putins Truppen greifen ein ukrainisches AKW an. Im Fall eines GAUs müsste aber nicht nur die Ukraine die Folgen tragen – auch Russland selbst. Ein Gastbeitrag.

Russlands groß angelegte militärische Mobilisierung in der Ukraine hat eine düstere Vorgeschichte. Sollte der Kreml aber mit dem Krieg fortfahren, wird er auf eine Gefahr stoßen, mit der keine Armee bisher konfrontiert wurde: 15 Atomreaktoren an vier Standorten, die etwa 50 Prozent des ukrainischen Energiebedarfs decken.

Dass russische Truppen vor einem Angriff auf ukrainische Atomkraftwerke nicht zurückschrecken, wurde in den frühen Morgenstunden am Freitag deutlich. In der Nähe der südostukrainischen Großstadt Saporischchja hat es ukrainischen Angaben zufolge im größten Atomkraftwerk Europas einen Brand gegeben. Auslöser sei heftiger Beschuss durch russische Streitkräfte gewesen. Zwar sei die Lage laut Behördenangaben wieder unter Kontrolle. Dennoch stellt der AKW-Angriff ein beängstigendes Risiko dar.

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Im Falle eines Angriffs können Reaktoranlagen zu radiologischen Minen werden. Würde ein Reaktor beschädigt, wäre nicht nur die Ukraine, sondern Russland selbst von windgetragenen, radioaktiven Trümmern betroffen. Angesichts der Verwundbarkeit der ukrainischen Kernreaktoren und den verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt, sollte der russische Präsident Wladimir Putin noch einmal darüber nachdenken, ob die Ukraine einen Krieg wert ist. 

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Angriffe auf AKWs können katastrophale Folgen mit sich ziehen

Kraftwerke sind in modernen Konflikten häufig das Ziel, da ihre Zerstörung die Fähigkeit eines Landes beeinträchtigt, den Kampf fortzusetzen. Aber Kernreaktoren sind nicht wie andere Energiequellen. Sie enthalten enorme Mengen an radioaktivem Material, das auf unterschiedlichste Weise freigesetzt werden kann.

Bombardierungen aus der Luft oder Artilleriebeschuss könnten beispielsweise den Sicherheitsbehälter eines Reaktors zerstören oder wichtige Kühlmittelleitungen durchtrennen, die den Kern stabil halten. Das Gleiche gilt für Cyberangriffe, die den Betrieb der Anlage lahmlegen können, sowie für eine Unterbrechung der externen Stromversorgung, auf die Kernkraftwerke angewiesen sind, um weiter zu funktionieren. 

Sollte ein Reaktorkern schmelzen, würden explosive Gase oder radioaktive Trümmer aus dem Sicherheitsbehälter austreten. Sobald sie in die Atmosphäre gelangen, würden sich die Abgase und Trümmer über Tausende von Kilometern verteilen und leicht bis hochgiftige radioaktive Elemente auf städtische und ländliche Landschaften abladen. Abgebrannte Brennelemente könnten weitere Verwüstungen anrichten, sollten die Lagerbecken in Brand geraten. 

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Die gesundheitlichen Folgen eines solchen Fallouts würden von der betroffenen Bevölkerung und der Toxizität der radioaktiven Elemente abhängen. Das Tschernobyl-Forum der Vereinten Nationen schätzte, dass der Unfall in der Ukraine im Jahr 1986 über einen Zeitraum von 50 Jahren zu 5.000 zusätzlichen Krebstoten führen würde. Einige Umweltgruppen sind jedoch der Meinung, dass diese Zahl die Belastung wahrscheinlich stark unterschätzt. In der Tat traten in den Jahren unmittelbar nach dem Unfall Tausende Fälle von Schilddrüsenkrebs auf. 

Tschernobyl und Fukushima nach der Reaktorunglücken

Inmitten einer Pandemie, die Millionen von Menschen das Leben gekostet hat, mag die Zahl der Todesfälle durch einen Kernreaktor-Unfall trivial erscheinen. Doch das wäre eine unverantwortliche Fehleinschätzung des Risikos. Um die Strahlenbelastung nach Tschernobyl zu verringern, mussten die sowjetischen Behörden Hunderttausende von Menschen umsiedeln und große Teile der landwirtschaftlichen Flächen und Wälder für Jahrzehnte aus der Produktion nehmen.

In und um den Reaktor wurden 600.000 "Liquidatoren" eingesetzt, um das Gelände zu säubern. Ingenieure bauten einen riesigen "Sarkophag" über dem Reaktorgebäude, um die Freisetzung weiterer Emissionen einzudämmen. Millionen von Menschen erlitten ein psychologisches Trauma, etwa sieben Millionen erhielten eine soziale Entschädigung. Die wirtschaftlichen Verluste betrugen mehrere Hundert Milliarden Dollar.

Inspekteure der International Atomic Energy Agency (IAEA) begutachten einen zerstörten Reaktor nach dem Erdbeben und Tsunami in Fukushima .
Inspekteure der International Atomic Energy Agency (IAEA) begutachten einen zerstörten Reaktor nach dem Erdbeben und Tsunami in Fukushima .

© Handout/TEPCO/AFP

Japan rechnet immer noch mit den Hunderten Milliarden Dollar ab, die die Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011 kosten wird. Dabei wurde bei diesem Zwischenfall nur ein Zehntel der Strahlung von Tschernobyl freigesetzt, größtenteils ins Meer. 

Ein chaotisches Schlachtfeld

Ein Krieg würde diese Risiken noch erhöhen, da die Reaktorbetreiber, die den radioaktiven Niederschlag eindämmen könnten, aus Angst vor Schüssen oder Bombardierungen eher fliehen würden. Befindet sich ein Reaktor inmitten eines chaotischen Schlachtfelds, gibt es möglicherweise nicht einmal Ersthelfer. Die schlecht informierte Bevölkerung wäre auf sich allein gestellt und könnte in den kontaminierten Gebieten umherwandern - und in Panik geraten. 

Nach dem Waffenstillstand hätte die Ukraine mit den langwierigen Folgen zu kämpfen, die jeder Atomunfall mit sich bringt. Wie Tschernobyl gezeigt hat, wäre sie damit nicht allein. Die Freisetzung von Strahlung kennt keine Landesgrenzen, und die Nähe Russlands würde das Land zu einem Sammelbecken für radioaktive Aerosolablagerungen machen. 

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Angesichts des Vermächtnisses von Tschernobyl würde man meinen, dass Russland Angriffe auf in Betrieb befindliche Reaktoren vermeiden würde. Tatsächlich ist Vermeiden die historische Norm. Israel hat zwar syrische und irakische Anlagen mutmaßliche Atomwaffenanlagen angegriffen, und der Irak hat während des Krieges in den 1980er Jahren zwei Reaktoren in Bushehr, Iran, bombardiert. Aber in diesen Fällen befanden sich die Anlagen noch im Bau. 

Ein Satellitenfoto des Kernkraftwerks Saporischschja in Enerhodar, Ukraine
Ein Satellitenfoto des Kernkraftwerks Saporischschja in Enerhodar, Ukraine

© Planet Labs Pbc/Planet Labs PBC via AP/dpa

Glück statt Vernunft

Es hat auch Fälle gegeben, in denen Angriffe auf in Betrieb befindliche Atomkraftwerke in Betracht gezogen wurden: Serbien erwog zu Beginn des Balkankriegs einen Angriff auf das slowenische Kernkraftwerk Krško, und Aserbaidschan überlegte im Krieg von 2020 einen Angriff auf das armenische Kernkraftwerk Metsamor. 

Aber es gibt auch andere Fälle, in denen Zufall statt Vernunft den Ausgang bestimmt hat. Dazu gehören die fehlgeschlagenen irakischen Scud-Angriffe auf den israelischen Waffenreaktor Dimona während des Golfkriegs und der US-Angriff auf einen kleinen Forschungsreaktor im irakischen Kernforschungszentrum Tuwaitha außerhalb Bagdads während desselben Konflikts. 

Die Ängste der Ukraine über ihre nukleare Verwundbarkeit wurden 2014 durch die russische Invasion und Annexion der Krim verstärkt. Aus Sorge, dass ein weiterer Konflikt zu einem Reaktorangriff führen könnte, wandte sich die Ukraine an die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA und den Nuklearen Sicherheitsgipfel, um ihre Abwehrkräfte zu stärken. Leider gibt es keine Verteidigung, die einem russischen Bombardement standhalten könnte. 

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Wie der Beschuss auf die Atomanlage Saporischschja zeigt, schließt Putin Reaktorangriffe nicht aus. Die derzeitige Kriegsführung erinnert an Russlands Kampfverhalten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Auch in den Kriegen in Afghanistan, Tschetschenien und Syrien kümmerten sich die russischen Streitkräfte kaum um konventionelle Grenzen.  

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Auch zu berücksichtigen sind die Unwägbarkeiten des Krieges im Allgemeinen. Schlimme Dinge passieren; Kämpfer machen Fehler; Soldaten im Feld ignorieren Einschränkungen. 

Ein Beispiel dafür war die Bombardierung des vom Islamischen Staat gehaltenen Tabqa-Damms in Syrien am 26. März 2017. Der 18 Stockwerke hohe Damm, der einen 25 Meilen langen Stausee am Euphrat zurückhält, hätte bei seiner Zerstörung Zehntausende Menschen flussabwärts ertränkt. US-Luftfahrzeuge missachteten strikte "no strike"-Befehle, umgingen Sicherheitsvorkehrungen und griffen den Damm trotzdem an. Wieder einmal bewarte Glück die Welt vor einem schlimmen Schicksal: Die Rakete explodierte nicht. 

Für den Kreml sollte die Lektion klar sein. Angriffe auf die ukrainischen Atomkraftwerke birgt das Risiko einer radiologischen Katastrophe, die nicht nur das Gastland, sondern auch Russland selbst treffen würde. Kein Krieg ist ein solches Wagnis wert. 

Bennett Ramberg, ehemaliger Auslandsbeauftragter im Büro für politisch-militärische Angelegenheiten des US-Außenministeriums, ist der Autor von Nuclear Power Plants as Weapons for the Enemy. Dieser Artikel ist Teil des “Project Syndicate” und wurde aus dem Englischen übersetzt. Der Text wurde mit Blick auf die Nachrichtenlage in der Ukraine aktualisiert. 

Bennett Ramberg

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