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Matthias Platzeck, Vorsitzender der Einheitskommission der Bundesregierung und ehemaliger Ministerpräsident von Brandenburg eröffnet die EinheitsEXPO.

© Sebastian Gabsch/PNN

Lehren aus der Deutschen Einheit: Wir brauchen ein „Institut für europäische Transformation“

Die Erfahrungen der Ostdeutschen und Osteuropäer sind wertvolles Kapital - auch für den Westen. Zwei Vorschläge von Matthias Platzeck.

Matthias Platzeck, ehemaliger Ministerpräsident von Brandenburg, leitet die Einheitskommission der Bundesregierung, die Ende des Jahres ihren Bericht mit Empfehlungen vorlegen will.

Um das Grundlegende vorab zu sagen: Die Einheit unseres Landes war und bleibt ein großes Glück. Wenn wir am kommenden Samstag den 30. Jahrestag des Datums begehen, an dem aus zwei lange getrennten Teilen Deutschlands ein Staat wurde, dann bedeutet das allemal einen guten Grund zum Feiern.

Dieser Tag wird für immer derjenige Tag in der Geschichte der Deutschen sein, an dem sie erstmals ihre Einheit in freier Selbstbestimmung fanden – im Ergebnis der friedlichen Revolution, mit der das Volk der DDR im Herbst 1989  ihr altes Regime überwunden und die Mauer zum Einsturz gebracht hatte. Wir Deutsche haben Grund, uns mit großer Freude an diesen ungewöhnlich glücklichen Abschnitt unserer Geschichte zu erinnern.

Aber Geschichte geht immer weiter. Es ist nicht damit getan, sich an Jubiläumstagen vergangener Großtaten zu erinnern. Der 3. Oktober 1990 bedeutete nicht nur einen Schlussstrich. Er war zugleich der Auftakt zu drei Jahrzehnten der schwierigen Transformation Ostdeutschlands und des widersprüchlichen Zusammenwachsens beider deutschen Teilgesellschaften.

Drei Jahrzehnte, das ist schon wieder eine ganze Generation. Was wir in ihnen hinbekommen haben oder nicht, damit sollten wir uns anlässlich dieses runden Geburtstags noch intensiver beschäftigen als mit dem historischen Glückstag selbst. Denn die Erfolge und Misserfolge unserer ersten drei gemeinsamen Jahrzehnte entscheiden über die Erfolge und Misserfolge der nächsten 30 Jahre – wenn wir die richtigen Lehren ziehen.

Die Lehre aus Erfolgen und Misserfolgen ziehen

Um auch hier nicht missverstanden zu werden: Gemeinsam erreicht haben wir unendlich viel. Nur wer sich noch einmal die erschütternden ökonomischen und ökologischen Verhältnisse der späten DDR vor Augen führt, kann die Leistung ermessen, die in Ostdeutschland seitdem erbracht worden ist.

Das Tal der Transformation, das die Ostdeutschen gerade in den neunziger Jahren durchschreiten mussten, war tief und trostlos. Arbeitslosigkeit und Abwanderung prägten Lage und Stimmung im Land. Eine ganze Generation junger und gut ausgebildeter Ostdeutschen hat die neuen Länder verlassen – und sie fehlen an allen Ecken und Enden.

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Trotzdem sieht die Lage heute ganz anders aus. Die Arbeitslosenquote in Brandenburg ist mittlerweile niedriger als in Nordrhein-Westfalen. Und wer auf der Autobahn im Osten unterwegs ist oder eine der vielen liebevoll restaurierten Altstädte zwischen Suhl und Stralsund besucht, erlebt vor allem eine intakte und lebenswerte Region.

Auf das inzwischen – auch mit viel Solidarität aus dem Westen – Erreichte können die Ostdeutschen selbstbewusst blicken, und in ihrer großen Mehrheit sind sie es auch. Umso unverständlicher erscheint oft aus westdeutscher Perspektive, dass dieser berechtigte Stolz der Ostdeutschen auf das selbst Geleistete auch nach 30 Jahren noch mit erheblicher Unzufriedenheit und anhaltendem Fremdeln im politischen System der Bundesrepublik einhergeht.

Ostdeutsche sind in Führungspositionen unterrepräsentiert 

Es muss beunruhigen, dass rechtsradikale Parteien wie die AfD in Ostdeutschland ihre größten Erfolge erzielen. Es gibt Anlass zu Sorge, wenn bis zu zwei Drittel der Ostdeutschen in Umfragen erklären, dass sie sich in Deutschland noch immer als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen.

Es ist ärgerlich, dass Ostdeutsche in den Führungspositionen von Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Medien oder Militär immer noch in krasser Weise unterrepräsentiert sind.

Es kann nicht befriedigen, dass Löhne und Gehälter im Osten Deutschlands auch weiterhin niedriger ausfallen als im Westen. Und es liegt auf der Hand, dass zwischen diesen unerfreulichen Tatbeständen Zusammenhänge bestehen müssen.

Klar ist jedenfalls, dass – bei allen unbestreitbaren Erfolgen – nicht alles richtig gelaufen sein kann in den ersten drei Jahrzehnten der Deutschen Einheit. Was müssen wir in den nächsten 30 Jahren besser machen? Zwei sehr konkrete Vorschläge:

1. Lernen aus der ostdeutschen Transformation – für alle.

Viele Menschen in Ostdeutschland (und auch im östlichen Europa) haben den Eindruck, ihre Erfahrungen in den radikalen Umbruch- und Transformationsprozessen der vergangenen Jahrzehnte stießen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auf zu wenig Interesse und Wertschätzung. Einher geht dies oft mit der Klage über fehlenden Respekt vor ostdeutscher „Lebensleistung“. Ins Positive gewendet verbirgt sich hier eine Ressource, die wir zum Nutzen unserer gesamten Gesellschaft unbedingt heben sollten. Denn die gesellschaftliche und ökonomische Transformation geht ja überall beschleunigt weiter.

Ob Klima, Energie, Verkehr, Kommunikation oder Arbeitswelt – auf allen Ebenen entscheidet heute und in Zukunft die Fähigkeit zum konstruktiven Umgang mit Prozessen des Umbruchs über den Erfolg oder Misserfolg von Gesellschaften.

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Ein Vorschlag, den wir daher in der „Kommission 30 Jahre friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ intensiv diskutieren, betrifft die Errichtung eines interdisziplinären „Instituts für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“. Dieses Zentrum, angesiedelt in einer ostdeutschen Stadt und eng verwoben mit internationaler Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie Zivilgesellschaft, würde den Auftrag erhalten, Wege erfolgreicher Transformation zu ermitteln und dabei auch Bürger miteinander ins Gespräch zu bringen.

Die ostdeutschen und osteuropäischen Transformationserfahrungen der vergangenen drei Jahrzehnte würden so in neuem Kontext zum wertvollen Kapital für unsere gemeinsame europäische Zukunft.   

2.    Ostdeutschland braucht einen Vorsprung

In wirtschaftlicher Hinsicht hat Ostdeutschland in den vergangenen Jahrzehnten vielfach erfolgreich aufgeholt und nachgeeifert. Aber das Nacheifern hat einen Pferdefuß: Weil diejenigen, denen man nacheifert, auch nie stehenbleiben, bleibt man immer Zweiter – ein auf die Dauer gesellschaftlich demoralisierend wirkender Zustand.

Darum muss Ostdeutschland die Chance erhalten, auf einzelnen Wirtschaftsfeldern zum Vorreiter zu werden. Die Möglichkeit hierfür besteht – wenn sie politisch gewollt und unterstützt wird. Denn heute existieren erstmals seit 1990 Bedingungen, unter denen in Ostdeutschland komplett neue Wirtschaftszweige installiert werden können. Die Energiewende, die digitale Revolution, die Umstellung der Mobilität machen dies möglich – sofern wir die richtigen Weichenstellungen vornehmen. Dafür braucht es nicht nur „umbruchkompetente“ Unternehmen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch mutige strukturpolitische Entscheidungen des Staates.

Deutschlands Vereinigung in Freiheit vor drei Jahrzehnten war ein historischer Glücksfall für unser Land und für Europa. Jetzt kommt es darauf an, die Weichen so zu stellen, dass diese Feststellung auch noch in 30 Jahren gilt.

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