zum Hauptinhalt
Für die Opfer des Assad-Regimes ist das Urteil ein wichtiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit.

© Bernd Lauter/AFP

Lebenslänglich für Anwar R. wegen Staatsfolter: Wenn Weltrecht in Koblenz gesprochen wird

Ein früherer syrischer Oberst muss wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ins Gefängnis. Ein historisches Urteil - und eines, das ernüchtert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christian Böhme

Die Schreie waren das Schlimmste. Tag und Nacht füllten sie die Gänge und Zellen des Gefängnisses mit Leid, Verzweiflung und Angst. Ließen erahnen, was hinter den verschlossenen Kerkertüren vor sich ging und einem selbst bevorstand. Schläge, Tritte, Elektroschocks, Isolationshaft, Vergewaltigung und am Ende womöglich der Tod.

So berichten es jene, die das Grauen der syrischen Foltermaschinerie überlebt haben. 108 Verhandlungstage war die menschengemachte Hölle in einem Koblenzer Gerichtssaal präsent, soweit das überhaupt möglich ist.

Dort musste sich Anwar R. seit April 2020 verantworten. Der einstige Vernehmungschef der berüchtigten Haftanstalt Al Khatib in Damaskus soll von 2011 bis 2012 für die Folter von mindestens 4000 Menschen und den Tod von mindestens 30 Gefangenen verantwortlich gewesen sein.

Assad wird wohl nie auf einer Anklagebank sitzen

Das wirft die Bundesanwaltschaft dem einstigen Geheimdienstoberst vor. Und diese Anschuldigungen sehen die Richter belegt.

[Wenn Sie die wichtigsten News aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Den Rest seines Lebens muss Anwar R., der stets seine Unschuld beteuerte, aber erklärtermaßen von den Misshandlungen wusste, nun selbst ins Gefängnis. Er hat sich verschiedener Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht – als Teil eines staatlich angeordneten Terrorregimes. Dazu gehören Mord, Folter und Vergewaltigung.

Es ist ein wegweisendes, ein historisches Urteil. Aber auch eines, das ernüchtert, weil Baschar al Assad als oberster Befehlshaber nicht auf der Anklagebank Platz nehmen musste und es wohl nie tun muss.

Anwar R. stand fast zu Jahre lang vor Gericht.
Anwar R. stand fast zu Jahre lang vor Gericht.

© Thomas Lohnes/AFP

Dennoch: Zuallererst ist der Prozess als solcher – geführt nach jenen rechtsstaatlichen Prinzipien, die der syrische Machtclan seinen Opfern verweigert – ein Erfolg. Die Ankläger haben erschütterndes Material zusammengetragen und Zeugen verstörend eindringlich schildern lassen, was ihnen widerfahren ist.

Die Bundesanwaltschaft hat vorbildliche Arbeit geleistet und stützte sich bei ihren Ermittlungen auf das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht.

Aktuell beliebt auf Tagesspiegel Plus:

Seit 2002 können in Deutschland Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen geahndet werden, selbst wenn weder die Tat hierzulande geschehen ist noch Angeklagte oder Opfer aus Deutschland kommen. Menschen, die derartige Verbrechen begangen haben, sollen in Deutschland nicht frei sein. Anwar R. gehört zu ihnen.

Jetzt ist gerichtsfest erwiesen, was in Syrien geschieht

[Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.]

Gerichtsfest ist jetzt erwiesen, was in den Kerkern des Despoten Assad vor sich geht. Wie sehr Syrerinnen und Syrer, von den gnadenlosen Herrschern als „Terroristen“ verunglimpft, um ihr Leben fürchten müssen.

Der Unterdrückungsapparat, der das Volk knechten und jede Art von Opposition vernichten soll, seine monströsen Verbrechen – all das ist in Koblenz ausgeleuchtet worden. Und fest steht nach Auffassung der Richter, dass Anwar R. jahrelang Teil dieses mörderischen Systems war. Einer, der Assad treu ergeben war, bis ihm Zweifel kamen und er zur Opposition überlief.

Gezeichnet fürs Leben sind die Syrerinnen und Syrer, die vom Regime gefoltert wurden.
Gezeichnet fürs Leben sind die Syrerinnen und Syrer, die vom Regime gefoltert wurden.

© James Lawler Duggan/AFP

Reicht es aus, ein Deserteur zu sein, um straffrei davonzukommen? Nein, meint das Gericht. Zu Recht. Denn Anwar R. hatte lange Zeit kein Problem damit, dem Sicherheitsapparat anzugehören und ihm zu dienen. Im Gegenteil.

Er verdankte dem verbrecherischen System seine Karriere. Dass er sich schließlich doch abwandte, aus Syrien floh und in Deutschland Asyl beantragte, hatte wenig mit moralischen Bedenken zu tun. Vielmehr störten ihn die Exzesse der Generäle, die einfach jeden einkerkerten und so seine Arbeit als effizienter Verhörspezialist infrage stellten.

Die Welt hat sich mit Syriens Despoten arrangiert

Anwar R. wird lange für das büßen, was unter seiner Aufsicht im Al-Khatib-Gefängnis vor sich ging – aber Assad kommt ungeschoren davon. Der Despot, der Krieg gegen das eigene Volk führt, hat nichts zu befürchten. Die oft zitierte Weltgemeinschaft hat sich mit ihm und seiner Herrschaft arrangiert. Das ist der bittere Beigeschmack des Koblenzer Prozesses. Das Morden und Foltern in Syrien wird weitergehen. Daran ändert auch das Urteil gegen Anwar R. nichts.

Zur Startseite